2 Alvarus Thomas und sein institutionelles Umfeld

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10.34663/9783945561096-03

Citation

Trzeciok, Stefan Paul (2016). Alvarus Thomas und sein institutionelles Umfeld. In: Alvarus Thomas und sein Liber de triplici motu: Band I: Naturphilosophie an der Pariser Artistenfakultät. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

2.1 Der Begriff universitas und eine kurze Geschichte der Pariser Universität

Im 12. Jahrhundert begann in Bologna die langwierige Phase der Etablierung einer Universitätskultur in Europa. Die Begriff Universität leitet sich von lateinisch universitas ab und bedeutet etymologisch „das Ganze“ oder „die Gesamtheit“.1 Als universitas verstand man im Mittelalter zunächst jede Form einer Genossenschaft und später den „Zusammenschluss der an einem Ort wirkenden Lehrer und Schüler zu einer privilegierten Korporation“, also in jedem Fall einen Personenverbund.2 Die Pariser Universität im Speziellen organisierte sich als Magisterverbund, als universitas magistrorum, im Gegensatz zu einem Studentenverbund, wie die Universität in Bologna typologisiert wird.3 Alvarus Thomas war dementsprechend erst mit dem Erreichen eines Studienabschlusses Mitglied der Pariser Universität.

Der lateinische Begriff universitas legt im Gegensatz zum heutigen Verständnis von Universität das Bedeutungsgewicht mehr auf die Menschen beziehungsweise die Gemeinschaft von Menschen, die miteinander gemeinsame Ziele im Sinne von Lernen und Lehren verfolgten, und weniger auf die abstrakte rechtliche Institution, die sie auch war. Diese Definition der universitas als Personenverbund ist zugleich eng verbunden mit dem mittelalterlichen Begriff des studium generale, mit dem man die Institution einer weiterführenden Schule, sprich eine Hochschule bezeichnete. Jaques Verger beschreibt die Bedeutung von studium generale folgendermaßen:

„Ein studium generale war eine Hochschule, die von einer universalen Macht, dem Papst oder – weniger häufig – dem Kaiser gegründet oder jedenfalls bestätigt worden war und deren Mitglieder bestimmte, ebenfalls universale, über alle lokalen und regionalen Grenzen von Städten, Bistümern, Fürstentümern, Königreichen hinweg geltende Rechte besaßen.“4

Das betraf für den einzelnen Gelehrten zum einen die Möglichkeit, mit dem an einer solchen Hochschule erworbenen Abschluss innerhalb der gesamten, dem Papst unterstehenden Christenheit zu lehren (licentia ubique docendi) und bescheinigte durch das Erreichen solcher Abschlüsse wissenschaftliche Kompetenz.5 Zum andern gewährleistete die Hochschule den Lehrenden und Lernenden einen gewissen rechtlichen Schutz vor den Zugriffen der lokalen geistlichen und weltlichen Institutionen.6 Den Charakter einer solchen universitas beschreibt Joachim Ehlers folgendermaßen:

„Die Universität steht über den individuellen Interessen ihrer Mitglieder, monopolisiert und professionalisiert Studium und Lehre; sie schränkt die Freiheit der Wissenschaft ein, wenn die Fakultäten sich auf bestimmte Lehrmeinungen einigen und wissenschaftliche Arbeit von Beschlußlagen abhängig wird.“7

Die Pariser Universität, an der Alvarus Thomas lehrte und studierte, kann kein exaktes Gründungsdatum vorweisen. Ihre Anfänge können nicht an die Geschichte einer einzigen Institution gebunden werden. Einer der ältesten Kristallisationspunkte war in dieser Hinsicht auf die Kathedralenschule von Notre Dame, die damals gern auf ihre angebliche Gründung durch Karl den Großen verwies. Schon Ende des 12. Jahrhunderts hatte die Kathedralenschule eine überregionale Bedeutung. Sie zog mehr Studierende nach Paris, als sie selbst unterrichten konnte, und bald boten freie Lehrer neben der Kathedralenschule ihre Dienste an.8 Dafür mussten die Lehrer eine licentia docendi vom Kanzler der Kathedrale von Notre Dame de Paris erwerben.9 Diese freien Lehrer unterrichteten vor allem Dialektik, Jura und Medizin.10

Die Dynamik der anwachsenden Anzahl der freien Lehrer und deren Lehrangebot führte dazu, dass eine universitas, also im Fall von Paris eine Magisterkooperation gegründet wurde, um das Lehrangebot, die Einkommenssituation, die Wohnungs- und Verpflegungssituation zu koordinieren und um Lehrstandarts zu etablieren.11 Auch die Klosterschule hatte in gewisser Weise ein Interesse daran, galt es doch, bestimmte Lehrangebote zu unterdrücken beziehungsweise zu fördern.12 Diese universitas hatte Ähnlichkeiten mit den Zünften und Gilden der damaligen Zeit – das heißt, dass sie erstens als Schutz- und Versorgungseinrichtung galt, man sich um die kranken Mitglieder kümmerte und man gemeinsam die Toten begrub. Die universitas konnte als juristische Person vor Gericht auftreten, Urkunden empfangen und ausstellen.13 Zweitens ging es für ihre Mitglieder auch um die Anerkennung des rechtlichen Status als clerici sowie um die Stellung der universitas als corpus ecclesiasticum im kanonischen Recht. Dieser Status erlaubte es den Universitätsangehörigen, von Steuern und von den Wehrverpflichtungen befreit zu werden, verbot allerdings auch das Tragen weltlicher Kleidung und Waffen. Zudem war eine Heirat fast unmöglich.14 1200 bestätigte zuerst der französische König dieses Vorrecht und acht Jahre später auch Papst Innozenz III. Das Interesse des Papstes wurde neben dem politischen Ziel – das bedeutet, die Erteilung der Rechte für eine Lehrbefugnis nicht dem König zu überlassen – davon geleitet, dass die Organisation der Lehre unter kirchlicher Aufsicht gestellt wurde und den Interessen der päpstlichen Kirche diente. Darunter ist die Lehre des rechten Glaubens und die Ausbildung fähiger Theologen zu verstehen, die diesen rechten Glauben gegen mögliche Abweichungen oder Leugnungen verteidigen konnten.15

Diese Entwicklung war rechtlich aus Sicht der Lehrenden davon gekennzeichnet, dass man seitens der Magisterkorporation Autonomie gegenüber der Leitung der Kathedralenschule und dem Bischof von Paris erlangen wollte, um den eigenen Lehrbetrieb selbstständig zu regulieren und eine eigene Disziplinargewalt auszuüben.16 Ab 1212 / 13 musste der Kanzler von Notre Dame de Paris dann den von der Magisterkooperation für eine licentia docendi examinierten Kandidaten den entsprechenden Grad ohne Treueeid oder zusätzliche Geldzahlungen verleihen.17 Privilegien gegenüber äußeren Institutionen wurden der Pariser Magisterkorporation vom Papst 1215 verliehen und erneut im Jahr 1231. Dies erwies sich immer wieder als nötig, zum Beispiel weil die Pariser universitas zwischenzeitlich vom lokalen Bischof wegen Missachtung der Zustimmungsabhängigkeiten beim Stellen von Statuten exkommuniziert worden war.18 Regelungen der inneren Angelegenheiten wurden dagegen der universitas selbst überlassen und erst mit der Zeit fixiert. 1215 gab es die ersten Studienprogramme und Lehrpläne, die Robert de Courçon, ein ehemaliger Pariser Lehrer als Kardinalslegat ausarbeitete.19 Im Allgemeinen hat man aber mit vielen ungeschriebenen Sitten betreffend der zu absolvierenden curricula, der Kleidung, der Löhne und der Strafen bei Vergehen zu rechnen.20 Ob Studierende sich der lokalen klerikalen oder weltlichen Gerichtsbarkeit oder der privilegierten Gerichtsbarkeit der universitas zu unterwerfen hatten, hing bei Nichtmitgliedern der Magisterkoperation im Zweifelsfall davon ab, ob ein magister als Vertreter der universitas den Angeklagten als seinen Schüler anerkannte.21

Höchstes Organ der Pariser universitas war der Konvent mit gesetzgebenden und administrativen Kompetenzen, der sich aus den amtierenden Lehrenden, ab 1350 zusätzlich auch den nicht amtierenden Lehrenden zusammensetzte und der von einem Rektor, den stets die Artistenfakultät stellte, geleitet wurde. Einer der wichtigsten Versammlungsorte war die Kirche von Saint Julien-le-Pauvre, wo auch der Konvent regelmäßig tagte.22 Die universitas richtete einige Ämter ein, wie das der bedelli, die die Liste der Graduierungen führten, neue Statuten verkündeten sowie die Listen der Pflichtlektüre und der erhältlichen Bücher pflegten. Die bedelli galten nicht als clerici, sondern waren Bürger, denen aber ebenfalls die Rechte und Privilegien der Universitätsmitgliedern zugestanden wurden. Bei öffentlichen Veranstaltungen gingen sie dem Rektor und anderen hohen Universitätsvertretungen in Amtstracht und mit Amtssymbol, der massa, einem dekorierten Stab, voraus. Unterschieden werden muss zwischen dem bedellus maior beziehungsweise bedellus generalis, der der universitas zugeordnet war, und den bedelli minores oder bedelli speciales, die den Fakultäten und den Nationen verpflichtet waren.23 Ein später eingeführtes Amt war das des notarius, der die Matrikel führte, offizielle Akten verwaltete und die Dokumente und Briefe der universitas verfasste.24 Mit diesen Verwaltungsorganen musste Alvarus Thomas mehr oder weniger in Verbindung gestanden haben.

Wem die Pariser Universität selbst wiederum Rechenschaft ablegte, hatte sich allerdings am Ende des Hundertjährigen Krieges (1337-1453) geändert. Durch den Krieg, verbunden mit dem Anspruch der französischen Könige, der Souverän des Landes zu sein, wurde der päpstliche Einfluss auf die Pariser Universität so stark zurückgedrängt, dass die Pariser Universität unter den Einfluss der Krone geriet. Karl VII. bestimmte als König von Frankreich 1446, dass die Rechtsstreitigkeiten der Universität vom Parlament entschieden werden, damals einem dem König unterstellten Gremium mit wenigen Mitgliedern. Sechs Jahre später fand eine weitere, für die Interessen der Krone vorteilhafte Umgestaltung der Universitätsstatuten statt, auf deren Grundlage dann die Universität bis in die Zeit von Alvarus Thomas stand.25 Dieser Wandel der Abhängigkeiten ist vor allem auf die wechselhafte Geschichte von Paris im Hundertjährigen Krieg, die Emanzipation der Ecclesia Gallicana vom Papst und auf die Folgen des Großen Abendländischen Schismas von 1378 zurückzuführen, die zuvor zeitweilig selbst die universitas spalteten.26 Ab 1380, mit dem Beginn des Großes Schismas, traten für die universitas in Paris, aber auch für die Universitätskultur im Allgemeinen in Europa, schwerwiegende Probleme auf. Die Frage, welchem Papst man Folgschaft leistete, dem in Avignon oder dem in Rom, war nicht nur eine politische und theologische Frage, sondern betraf zudem die finanziellen Belange der universitas. Schon wem man die rotuli, also die jährlichen Berichte, schicken sollte, stellte die universitas vor schwerwiegende Probleme, da man in diesen Schriftstücken auch um die Bestätigung der Pfründe nachsuchte.27 Schließlich entschied sich die universitas nach langwierigen inneren Auseinandersetzungen und infolge der Einflussnahme des französischen Königs für den Papst in Avignon. Die folgende Zeit von ca. 1380 bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts wird häufig als Zeit des Niedergangs des Einflusses und der Lehrqualität der Pariser Universität gewertet.28 Grund dafür war beispielsweise die Vertreibung der Anhänger des römischen Papstes und königliche Eingriffe in die „freie“ Meinungsäußerung. Zudem wurden von einigen, dem Papst in Rom treuen Universitäten, wie zum Beispiel Heidelberg, die Pariser Abschlüsse nicht mehr anerkannt.29 Nichtsdestotrotz blieb die Universität bestehen und war einer der zentralen Orte des Geisteslebens in der französischen Renaissance. In wie weit die Eingriffe der französischen Krone nachteiliger als die des Papstes waren, ist langfristig nicht einfach zu bestimmen. Auch die Frage, ob in dieser Zeit die Lehrqualität der Pariser Universität wirklich gesunken ist – der Topos des Niedergangs findet sich in vielen Darstellungen der Pariser Universitätsgeschichte – kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden.

Umwälzungen fanden aber nicht nur auf der politischen Ebene statt. Beispielsweise änderte sich der Begriff des clericus bis ins frühe 16. Jahrhundert dahin gehend, dass er zwar weiterhin die formalrechtliche Zugehörigkeit eines Universitätsmitglieds zum ordo clericalis ausdrückte, aber keineswegs die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Institution bezeichnete. Es finden sich sogar verheiratete Kleriker, clerici uxorati. Rainer Christoph Schwinges hält die „klerikalen Universitätsbesucher“ im Sinne von geweihten Priestern kurz vor der Reformation für eine Minderheit.30 Gleichzeitig sollte aber nur bedingt von einer Verweltlichung der spätmittelalterlichen Universität gesprochen werden, da die Kirche als rechtliche Institution und der christliche Glaube an sich immer noch in weiten Teilen der Universitätskultur präsent war.31 Es erlaubt aber zu mutmaßen, dass Alvarus Thomas als Arzt verheiratet war oder unehelich eine Familie versorgte, zumal es nicht belegt ist, dass er einem christlichen Orden angehörte.

Im Zuge der Neugründung vieler Universitäten im 15. Jahrhundert setzte auch an der Pariser Universität eine Tendenz zur Regionalisierung ein, die aber nicht als absolut zu werten ist. Die Mehrzahl der Studenten kam ohnehin immer aus den Paris nahen Regionen.32 Unterstützt wurde diese Entwicklung von Verboten einiger Landesherrschaften, die Studierende bei Studienabschlüssen außerhalb ihres Herrschaftsbereiches von möglichen Ämtern nach ihrer Rückkehr ausschlossen, um Universitäten im eigenen Einflussgebiet zu protegieren.33 Die Frage, warum Alvarus Thomas nach Paris gekommen war, anstatt in Lissabon oder in einer seiner Heimat näheren spanischen Universitäten wie Salamanca oder Valladolid zu studieren und zu lehren, ist letztendlich nicht zu klären. Statistisch gesehen gingen am Auslandsstudium interessierte Portugiesen häufiger nach Italien oder ins näher gelegene Spanien als an französische Universitäten.34

Anzunehmen sind allerdings Kontakte von Alvarus Thomas nach Portugal, die ihm ein Leben in Paris nahe brachten beziehungsweise sogar finanzierten. Über die Familie, aus der er stammte, ist nichts in Erfahrung zu bringen. Aber seine Verbindungen zu Pedro de Meneses sollten nicht unterschätzt werden, der anscheinend gute Kontakte in Paris hatte, mehrfach persönlich an disputationes der Pariser Artistenfakultät zusammen mit Alvarus Thomas teilnahm und dem – wie gesagt – auch der Adressbrief des Liber de triplici motu gewidmet war.35 Seine Familie gehörte zum portugiesischen Hochadel, der in die Erkundungs- und Eroberungspolitik Portugals integriert war. Pedro III. de Meneses war der 3. Markgraf von Vila Real und wurde am portugiesichen Hof vom Humanisten Cataldo Parisio Siculo erzogen.36 Es ist anzunehmen, dass er sich am bildungsfördernden Ideal eines Renaissancefürsten orientierte und dementsprechend das Studium aussichtsreicher Kandidaten aus Portugal an der Pariser Universität unterstützte.

Möglicherweise erhielt Alvarus Thomas aber auch eine der direkten Förderungen der portugiesischen Krone, die sogenannten bolsas, die von Manuel I. eingeführt wurden und bis 1550 etwa 300 portugisischen Studenten ein Auslandsstudium ermöglichten. In Paris studierten diese Studenten in der Zeit Johanns III. von Portugal meist am Collège Sainte-Barbe.37 Ob dies auch schon im frühen 16. Jahrhundert der Fall war, als Alvarus Thomas in Paris studierte, ist nicht nachzuweisen.

2.2 Die Artistenfakultät

Unter facultates versteht man im Allgemeinen Untereinheiten der universitas, an der Pariser Universität die Korporation des Lehrkörpers einer Art Fachgebiet, die aber auch durchaus eigenständige Entscheidungen hinsichtlich ihrer Statuten treffen konnten.38 Die Artistenfakultät war die älteste der Pariser Fakultäten und bildete zusammen mit den so genannten höheren Fakultäten für Medizin, Jura und Theologie die vier Teilverbände der Pariser universitas. Sie konstituierte sich innerhalb der universitas bereits 1240, die anderen folgten zwanzig Jahre später.39 Unterrichtet wurden in der Artistenfakultät neben den namensgebenden artes liberales vor allem die drei Philosophien, die Naturphilosophie, die Ethik und die Metaphysik.40 Die Fakultäten hatten als Untereinheiten der Universität eigene Statuten, einen Dekan und einen eigenen Rat.41 Diese regelten die Standesrechte- und pflichten, angefangen von der Kleidung bis zur Anwesenheit bei den die facultas betreffenden beziehungsweise eingerichteten Veranstaltungen. Die Registerbände 89 und 90 der Pariser Universität zeigen auf, dass die Artistenfakultät mit deutlichem Abstand die bestbesuchte Fakultät war. Von den höheren Fakultäten war die theologische Fakultät jene, in der am meisten eingeschrieben waren, gefolgt von der juristischen Fakultät, während die medizinische Fakultät bei weitem weniger Studenten und Doktoren in ihre Liste immatrikuliert hatte.42 Für die Jahre 1512 bis 1515 ermittelte James K. Farge, 2280 magistri artium, von denen sich 351 in der Theologischen Fakultät einschrieben. Demgegenüber standen 55 Graduierte in der Medizinischen Fakultät.43 Die soziokulturelle Schichtung der universitas stellte sich folgendermaßen dar: War die Masse der Studierenden, die der Artistenfakultät angehörten, von vielfältiger sozialer Stratographie mit einem sehr hohen Anteil an armen Studierenden, den pauperes, stand der Anteil Studierender aus reichen Familien oder anderweitig protegierten Personen in den höheren Fakultäten in einem reziproken Verhältnis dazu. Exklusiv oder mit einem hohen Anteil an reichen Absolventen scheint vor allem die juristische Fakultät gewesen zu sein. Dennoch hatten in der Rangordnung der Universität bei Veranstaltungen die Theologen die höchste Würde inne.44 Zu den privilegierten Personen zählte wahrscheinlich auch Alvarus Thomas, der wie die Quellen andeuten, von der Adelsfamilie der de Meneses oder sogar durch ein Stipendium der portugisischen Krone gefördert wurde.45

Als Studenten galten in Paris alle, die bereits einen Abschluss der Artistenfakultät, also zumindest das Bakkalaureat besaßen.46 Hatte man diese „Prüfung“ – aus heutiger Sicht eher ein Aufnahmeritual – bestanden, konnte man sich baccalaureus artium nennen. Zur Vorbereitung auf das Bakkalaureat brauchte man im frühen 16. Jahrhundert ungefähr dreieinhalb Jahre. Nach anderthalb weiteren Jahren war man zur Aufnahme unter die magistri artium bereit und erhielt nach der Aufnahme die licentia docendi.47 Die folgende Immatrikulation war mit einer Gebühr verbunden, die eine wichtige Einnahmequelle der universitas darstellte.48 Für diejenigen Studierenden ohne Abschluss gab es die Bezeichnung der scholiares simplices, oftmals wurden sie umgangssprachlich nur beani, von französisch bec jaune, etwa Grünschnäbel, genannt.49 Sie waren bei ihrer Ankunft an der Universität zwischen 14 und 16 Jahren alt und wurden – wie gesagt – bis zum Bestehen ihres ersten Examens nicht immatrikuliert, in späterer Zeit aber zumindest registriert. Die Studierenden waren in der Regel männlich.50 Die formalen Zugangsvoraussetzungen waren aus heutiger Sicht minimal. Im Grunde genommen musste man nur getauft sein. Es gab keine festen Zeiten zum Studienbeginn, kein Mindestalter. Kein Zeugnis des Besuchs einer vorbereitenden Schule wurde verlangt.51 Jacques Verger schätzt, dass nur 10 % derjenigen, die die Ausbildung an der Artistenfakultät begonnen haben, sie auch als magister artium beendeten. Immerhin sollen 30 % bis 40 % das Bakkalaureat erlangt haben.52 Allerdings war die Universität auch nicht darauf ausgerichtet, dass ein Studienziel in Form eines entsprechenden Abschlusses bestand.53 Vielmehr ging es um das Erlernen einer höheren Bildung. Abgänger der Artistenfakultät, mit und ohne Abschluss, die nicht weiter studierten und sich nicht an den höheren Fakultäten einschrieben, hatten beispielsweise Einkommensmöglichkeiten in Lateinschulen.54 „Denn noch um 1500 war es nicht normal, irgendein Examen abzulegen,“55 schreibt Schwinges, und Examen spielten außerhalb der Universität als Zugangsregulierung eine sehr geringe Rolle.

Der Erwerb eines Hochschulgrades und somit in gewisser Weise der Besuch der Artistenfakultät, in der man auf die für den ersten Hochschulgrad zu absolvierende Prüfung vorbereitet wurde, war jedoch wichtig als Voraussetzung für die Zulassung zum Studium an den weiterführenden Fakultäten.56 Dabei war das curriculum der Veranstaltungen für einen Abschluss im Vergleich zu den anderen Fakultäten stärker reguliert.57 Der Unterricht erfolgte einerseits durch den Besuch zentraler Veranstaltungen der Fakultät an öffentlichen Orten in Paris, andererseits an beziehungsweise in den Kollegien, an denen die Grundlagen für das Studium der Medizin, des Rechts und der Theologie in weitaus kleineren Gruppen unterrichtet wurden.

Man konnte nur studieren, indem man sich einem Lehrer anschloss. Das Studium war also durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geprägt. Ein Lehrer mit seinen Studierenden wurde familia genannt.58 Eine solche familia bedurfte der gegenseitigen Anerkennung. Die Entscheidung, wann man seine Studien als abgeschlossen betrachten konnte beziehungsweise einen Abschluss erreichte, lag allerdings nicht bei dem Lehrer, sondern bei der facultas. Der betreffende Schüler musste von seinem Ausbilder den Fachkollegen vorgestellt werden, die im Folgenden entschieden, ob ein gewisser akademischer Grad beziehungsweise die damit verbundene licentia docendi zu verleihen war.59 Bei solchen „Prüfungen“ hatten im frühen 16. Jahrhundert in Paris meist fünf bis sechs Zeugen anwesend zu sein, wahrscheinlich eingeschriebene Mitglieder der jeweiligen Fakultät, an der die „Prüfung“ statt fand. Nichtsdestoweniger galt es sicherlich als Ehre, wenn viele magister an einer solchen Veranstaltung teilnahmen.60 Als „Prüfling“ oder „Initiant“ – wenn das Studium im Gesamten als Übergangsritus aufgefasst wird – hatte man meist eine disputatio zu absolvieren. Für die Zulassung waren gewisse Kriterien zu erfüllen, die kollegial von der facultas bestimmt wurde. Es musste zuvor ein bestimmter curriculum von dem Studierenden absolviert werden. Dieser war mit einer Mindeststudienzeit und gewissen Studieninhalten verbunden. Außerdem hatte der Studierende einem bestimmten Lebenswandel zu folgen.61 Diesem Lebens- und Wertgefüge war auch Alvarus Thomas als Lehrer und Mitglied der universitas unterworfen. Dazu gehörten der Glaube an eine vom christlichen Gott geschaffene, der Vernunft zugänglichen Weltordnung, ein Wahrheitsgebot, das die eigenen Aussagen an die Regeln der Überprüfbarkeit band und mit der Akzeptanz grundlegender Autoritäten, aber auch mit berechtigter Kritik an ihnen verbunden war, um die früheren Erkenntnisse zu verbessern (reformatio ad melius).62 Die „Prüfungen“ waren in der Regel mündlich. Sie bescheinigte die Fähigkeit zu lehren, für das Lehramt war dann noch eine weitere „Prüfung“ abzulegen, der so genannte Antritt, die inceptio. Ein Scheitern war bei dieser Veranstaltung unmöglich, da sie eher einen zeremoniellen Akt darstellte, der häufig in einer Kirche stattfand.63 Zu Anfang des 16. Jahrhunderts scheint die Artistenfakultät auch noch keine Doktortitel vergeben zu haben. Ein doctor stellte den höchsten Grad in der Hierarchie der mittelalterlichen Universität dar, den nur die höheren Fakultäten verliehen.64

Alvarus Thomas gehörte möglicherweise zu den Schülern von Jodocus Clichtoveus (ca. 1472-1543).65 Diese Information findet sich bereits bei Luis de Matos in seiner Untersuchung „Les Portugais à l'Université de Paris entre 1500 et 1550“ von 1950, sie wurde allerdings von den nachfolgenden Forschern nicht mehr weiter übernommen.66 Wenn Alvarus Thomas denn sein Schüler war, besteht die Möglichkeit, dass er wegen Clichtoveus´ Ruf als Humanist nach Paris gekommen war und bei ihm auch seine mathematischen und naturphilosophischen Studien absolvierte. Interessanterweise beteiligte sich Clichtoveus 1503, als Alvarus Thomas durchaus schon sein Student sein konnte, an einem Boëthiuskommentar, die Epitome compendiosaque introductio (Jac[obi] Fabri Stapulensis) in libros Arithmeticos divi Severini Boetii, adjecto familiari (Judoci Clichtovei) commentario dilucidata. Möglicherweise hat Alvarus Thomas durch die Mitarbeit an diesem Werk die Grundlagen für seine fundierte Kenntnis der mittelalterlichen Proportionslehre gelegt.67 Da Clichtoveus in dieser Zeit am Collège de Navarre unterrichtete, ist es möglich, dass Alvarus Thomas an eben dieser berühmten Institution seinen Magistergrad erwarb.68 In dieser Hinsicht ließe sich eine Parallele zu Juan de Celaya ziehen, der zwar am Collège de Montague ausgebildet wurde, aber später zusammen mit Alvarus Thomas am Collège de Coqueret als regens arbeitete.69 Ein Wechsel der Collèges nach der Ausbildungszeit scheint also nicht ungewöhnlich gewesen zu sein.

Clichtoveus selbst war wiederum ein Schüler von Jacques Lefèvre d’Étaples (ca. 1460-1536), mit dem er nach seinem Studium weiter zusammenarbeitete.70 Auch Faber Stapulensis – wie er auf Latein genannt wird – ist als möglicher Lehrer von Alvarus Thomas anzusehen. Die Quelle für diese Information ist das Werk De Judoci Clichtovei Neoportuensis; vita et operibus von Jules Alexandre Clerval aus dem Jahr 1894, der unter den Schülern von Clichtoveus und Faber Stapulensis einen Alvarus ex Hispania aufführt, der bei der Ausarbeitung der Werke beider zur Hand ging.71 Ex Hispania liest man in diesem Falls als geographische Bezeichnung für die iberischen Halbinsel, also auch für das Königreich Portugal. Dies ist durchaus plausibel, zumal kurz zuvor im selben Text Germania ebenfalls als geographische Bezeichnung verwendet wurde. Lefèvre arbeitete in den 1510er Jahren am Collège de Cardinal Lemoine im Paris. Daher kommt auch dieses Collège als Studienort von Alvarus Thomas in Frage. Clichtoveus wurde später in den 1520ern als Luthergegner in Paris berühmt, während Lefèvre der Nachwelt meist durch seine Bibelübersetzung ins Französische bekannt ist, die im Übrigen die erste vollständige Übersetzung in dieser Sprache seiner Zeit darstellte.72 Beide gelten als Repräsentanten der humanistischen Opposition gegen die sonst als konservativ eingeordnete Belegschaft der Pariser Universität.

Bekannt sind allerdings die Namen einiger von Alvarus Thomas betreuten Studierenden. In den Registern der Universität finden sich Aufzeichnungen zu den Magister- beziehungsweise Bakkalaureusprüfungen, die sowohl den Namen des Prüflings als auch den Namen seines regens nennen: Im Dezember 1512 besteht Wilhelm Potet seine Magisterprüfung, am selben Tag Michael Faroul, die beide von Alvarus Thomas als regens betreut wurden.73 Im Februar 1512 / 13 besteht Zacharias Dugast seine Magisterprüfung.74

Die Lehrer der Artistenfakultät rekrutierten sich häufig aus den Studenten, die als magister artium in einer der höheren Fakultäten eingeschrieben waren und als Lehrer und Beaufsichtigender der simplices scholiares an einem der Kollegien ihren Lebensunterhalt verdienten.75 Diese Kollegienlehrer, die regentes, wurden von den Studierenden gewählt, an sie hatten die Studierenden Geld für die Ausbildung, die so genannte collectae, zu entrichten. Auch Alvarus Thomas hat diesen Lebensweg eingeschlagen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Alvarus Thomas nicht erst als magister artium nach Paris gekommen ist, sondern bereits als scholaris simplex in dieser Stadt sein Studium begonnen hat. Ohne vorherige persönliche Verbindungen wäre es ungleich schwerer gewesen, zum regens am Collége de Coqueret gewählt zu werden.

2.3 Die Kollegien

Anfang des 16. Jahrhunderts gehörten etwa 70 Kollegien zur Pariser Universität, die vornehmlich den Studierenden der Artistenfakultät Unterkunft und Ausbildung anboten.76 In den Regesten der Pariser Artistenfakultät werden um 1500 allerdings nur 36 collegia aufgeführt, von denen 24 Magisteraspiranten für die Prüfung stellten. Die meisten Prüflingen kamen aus den Collegès de Saint-Barbe und de Montaigu.77 Das Kollegiensystem der Pariser universitas entwickelte sich aus den hospicia, die Bedürftigen nicht viel mehr als große Schlafräume zur Verfügung stellten. Daher waren die Kollegien anfangs vor allen Dingen Unterkünfte für arme Studierende, meist sehr bescheiden, wenn man vom berühmten Collége de Navarre absieht. Reiche Studierende konnten auch privat Räume anmieten beziehungsweise auch außerhalb der Kollegien unterkommen.78 Wie Bruderschaften waren manche Kollegien Studierenden vorbehalten, die aus einer bestimmten Region oder Stadt kamen. Beispielsweise beherbergte das Collège de Constantinople etwa 20 Studierende aus Griechenland und Kleinasien.79 Diese Kollegien waren häufig Stiftungen. Einige entwickelten sich mit der Zeit zu elitären Institutionen, die versuchten, bessere Studienbedingungen als die anderen Kollegien zu bieten, zum Beispiel umfangreiche Bibliotheken, um auch wohlhabendere Studierende anzuziehen.80 Die Größe dieser Kollegien war meist sehr bescheiden. Das für seine exzellente Ausbildung gerühmte Collége de Navarre galt mit 70 Studierenden bereits als verhältnismäßig groß.81

Erst im 14. Jahrhundert begann man in den Räumen der Kollegien zu unterrichten, zuerst zusätzlich zu den vorgeschriebenen Kursen, bis sich im 15. Jahrhundert das Kollegiensystem soweit entwickelt hatte, dass Unterricht und Übernachtung im selben collegium stattfanden.82 Daneben mussten aber noch andere Veranstaltungen der Fakultät besucht werden, die häufig unter freien Himmel stattfanden. Bekannt ist der Straßenunterricht im vicus straminis, die sogenannte Strohstraße, die in der Gegend um die Rue du Fouarre lag. Die Studenten saßen nämlich vor allem auf Strohballen.83 Erst Mitte des 16. Jahrhunderts wurde dort kein Unterricht mehr geführt.84 Hastings Rashdall führte diesen Strukturwechsel der Kollegien von Schlafort zum Ausbildungs- und Wohnort auf die höhere Disziplin und die Gewährleistung einer besseren Grundausbildung zurück, die an den Kollegien geboten wurde.85 In Paris standen die Artistenkollegien – wahrscheinlich wegen des geringen Alters ihrer Bewohner – unter einer strengen klerikalen, in dem Fall universitären Aufsicht.86

Zu unterscheiden sind allerdings monastische Kollegien, die Studierenden bestimmter kirchlicher Orden Unterkunft boten, allerdings erst beim Einschreiben in die theologische Fakultät, also nach dem Absolvieren der Artistenfakultät.87 Angehörige der Bettelorden – Dominikaner, Franziskaner, Karmeliten und Augustiner – wurden zudem in Paris nicht an der Artistenfakultät zum Abschluss zugelassen. Es gab um 1515 auch nur wenige Benediktiner und Cluniazenser, die sich der „Prüfung“ stellten.88 In dieser Hinsicht kann man annehmen, dass Alvarus Thomas, der sich als magister artium in die medizinischen Fakultät eingeschrieben hatte, keinem bestimmten Orden beigetreten war beziehungsweise beizutreten hatte.

Wie bereits festgestellt, arbeitete Alvarus Thomas am Collége de Coqueret und zwar zumindest zwischen den Jahren 1509 und 1513.89. Angesiedelt war das Collége de Coqueret auf dem Montagne Sainte-Geneviève im heutigen 5. Arrondissement von Paris. Das Kollegium wurde 1418 von Nicolas Coquerel oder Coqueret gegründet.90 Für die Zeit von Alvarus Thomas ist nicht viel bekannt. Der primarius, wohl der Leiter des Kollegiums, war zwischen 1512 und 1514 Robertus Dugast.91 Robertus Dugast wurde später bis 1529 decanus der facultas decretorum.92 In der Zeit, als Alvarus Thomas am Collége de Coqueret lehrte, scheint auch ein Mitglied seiner Familie als Studierender an diesem Kollegium gewesen zu sein, Zacharius Dugast. Er wurde von Alvarus Thomas als regens unterrichtet und bestand im Februar 1512 / 13 erfolgreich seine Magisterdisputation.93 Der vielleicht prominenteste Schüler des Kollegiums in dieser Zeit war Domingo de Soto, der später Beichtvater von Kaiser Karl V. wurde und der dort sicher auch mit Alvarus Thomas in Paris zusammentraf. Sein regens war damals Juan de Celaya.94 Wie viele regentes das Collége de Coqueret in der Regel im frühen 16. Jahrhundert beschäftigte, ist nicht feststellbar. Auch über die Anzahl der Studierenden des Collége de Coqueret kann man nur spekulieren. Aus den Pariser Universitätsregistern 89 und 90, die die Jahre zwischen 1512 und 1515 betreffen, geht hervor, dass 46 Studierende dieses Kollegiums in dieser Zeit einen Abschluss an der Artistenfakultät erreichten. Damit reiht sich das Kollegium bereits unter den zehn Kollegia in Paris ein, die die meisten Prüfungskandidaten stellten.95

Bekannt wurde das Collége de Coqueret in der Forschungsliteratur vor allem durch den Literatenkreis der Plejaden, der sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts formierte und mit der Person Jean Dorat verbunden ist, der 1547 im Collége de Coqueret primarius geworden war. Zur diesem Kreis gehörten die Dichter Pierre de Ronsard, Joachim du Bellay, Rémy Belleau und Jean Antoine de Baïf.96 Diese Tradition ist nicht willkürlich am Collége de Coqueret entstanden. Schon als Alvarus Thomas als regens dort unterrichtete scheint es für die an diesem Kollegium Studierenden üblich gewesen zu sein, sich mit der antiken Dichtung auseinander zu setzen und auch eigene Gedichte zu verfassen. Hinweise dafür kann man darin sehen, dass Dionysius Faber, der mehrere Gedichte verfasste, die im Liber de triplici motu von Alvarus Thomas abgedruckt sind, am Collége de Coqueret die Vorbereitungen für seine Magisterprüfung absolvierte.97 Höchstwahrscheinlich ergab sich auch an diesem Kollegium der Kontakt zwischen Dionysius Faber und Alvarus Thomas, so dass man schlussfolgern kann, dass beide bereits vor 1509 am Collége de Coqueret ansässig waren. Anzunehmen ist daher, dass das Collége de Coqueret eine Bibliothek hatte, deren Sammlung die berühmten Titel der antiken Dichtung umfasste.

2.4 Studentische Organisationen

Alle Studierenden der vier Fakultäten der Pariser Universität waren seit 1222 aufgrund ihrer geographischen Herkunft einer von vier nationes zugeteilt.98 Zur französischen Nation gehörten die Studierenden aus Zentral- und Südfrankreich, der spanischen Halbinsel, Italien, Griechenland und Kleinasien, zur pikardischen Nation die Studierenden aus Nordostfrankreich und den Niederlanden, zur normannischen Nation die Studierenden aus der Diözese Rouen. Die anglogermanische Nation verband die Studierenden aus England, Schottland, Skandinavien, Deutschland, Ungarn und den slawischen Ländern.99 Alvarus Thomas zählte demnach zur französischen natio. Die Hinweise im Liber de triplici motu zu den nationes sind ein Brief und ein Gedicht von Johannes de Haya an den procurator nationis Germanae, Herman Lethmaet, zu finden ist.100 Sie weist vor allem darauf hin, dass sich zur Zeit von Alvarus Thomas die Aufstellung der ursprünglichen vier nationes an der Pariser Universität verändert hatte. Unklar bleibt für die Zeit um 1500, wie viele nationes es insgesamt gab. Dass der Autor des Liber de triplici motu Mitglied der französischen natio war, steht also unter dem Vorbehalt, dass die mittelalterliche Einordnung portugiesischer Studierenden in die französische natio um 1500 noch praktiziert wurde.

Die nationes waren in erster Linie Studentengenossenschaften, die in Paris einen Abschluss an der Artistenfakultät erforderten.101 Sie wählten monatlich einen procurator, der die Zusammenkünfte leitete.102 Jede natio verfügte über ein eigenes Matrikelbuch, Siegel und Vermögen. Im heutigen Sinne nationalen Charakter hatte diese Einteilung nicht.103 Jedoch werden sich die nationes der Förderung und Unterstützung derjenigen Studierenden gewidmet haben, deren geographische Herkunft der jeweiligen natio zugeordnet war. Der Einfluss der nationes auf die universitas magistrorum ist schwer zu bestimmen. Im Universitätsalltag haben sie höchstwahrscheinlich wegen ihres Einflusses für die Studierenden eine große Rolle gespielt. Möglicherweise gehörte man den nationes nur solange an, wie man in Paris in der Artistenfakultät eingeschrieben war.104 In der Forschungsliteratur zur Geschichte der Pariser Universität wird ihre Bedeutung nach dem Großen Schisma ab der Mitte des 15. Jahrhunderts aber als gering angesehen.105 Der Grund war einerseits sicher die wachsende Bedeutung der Kollegien, andererseits vielleicht auch die veränderte politische Disposition der Universität, die es den Vertretern der nationes schwerer machte, Einfluss auf die Entscheidungen der universitas zu nehmen.

Die nationes richteten ebenso wie die Fakultäten für spezielle Aufgaben Ämter ein. Für den Kontakt zwischen den Studierenden und ihren Familien waren die nuntii minores beziehungsweise nuntii volantes zuständig, die Briefe überbrachten, Geschenke und vor allen Dingen die Geldzahlungen der Familie. Waren diese nuntii wegen der damaligen Reisebedingungen im Verzug, oder andere Gründe ergaben, dass den Studierenden die Geldmittel ausgingen, dann konnten sich die Studierenden bei den nuntii maiores auch Geld leihen.106 Dass Alvarus Thomas auf die Hilfe dieser nuntii maiores angewiesen war, ist zumindest vorstellbar, zumal die Diözese Lissabon weit entfernt war und die Ankunftszeit von reisenden nuntii volantes mit der wachsenden Distanz stärker schwankten.

Einflussreich und auch im heutigen Sinne manchmal national beziehungsweise regional bestimmt scheinen dagegen Bruderschaften gewesen zu sein, die zur finanziellen und institutionellen Förderung von Studierenden geschlossen worden sind. Auf Grund der Quellenlage ist nicht sehr viel über sie bekannt. Sie sind ebenfalls Kooperationen, die nicht offiziell zur universitas gehörten. Häufig organisierten sich solche Bruderschaften aus den Studierenden eines bestimmten Herkunftsorts. Beispielsweise gründete sich 1331 die Bruderschaft „Unserer Lieben Frau“, die sich zur Aufgabe stellte, die Studierenden der Stadt Ypern zu versorgen.107 Dass Alvarus einer solchen lokal organisierten Bruderschaft angehörte, kann als unwahrscheinlich gelten, wohl weil die Anzahl in Paris ansässigen Lissabonner zu gering war und andere Versorgungswege wie die königlich-portugiesischen bolsas gefunden hatten.108

Fußnoten

Diese Darstellung der Pariser Universität um 1500 beruht zum großen Teil auf Standardwerken, die eigentlich das Mittelalter abdecken: Rüegg 1993a, Denifle 1885 oder Rashdall et.al. 1936 (Neudruck 1997). Einführend ist Ehlers 1999. Informationen spezifisch für die Geschichte der Pariser Universität um 1500 sind dagegen weitaus spärlicher. Das mag damit zusammenhängen, dass die wichtigste Quellensammlung, das Chartularium Universitatis parisiensis, Quellen bis ungefähr 1450 bereitstellte (Denifle, Heinrich, Emile Chatelain, Charles Samaran, and Émile A. van Moé 1889). Quellen für die Zeit um 1500 sind teilweise erst sehr spät erschienen, zum Beispiel Farge 2006.

Wolgast 2002, S. 355.

Vgl. Wolgast 2002, S. 355.

Verger 1993b, S. 49.

Zu Einschränkungen dieser licentia ubique docendi siehe Rüegg 1993b, S. 34. Paris erhielt 1292 das Recht, seinen Lizentiaten die licentia ubique docendi zu verleihen. Vgl. Nardi 1993, S. 98.

Der Papst konnte auch eigenständig solche Zertifikate verteilen. Man nannte solche Titelträger wegen der Ernennung durch eine päpstliche Bulle doctores bullati. Vgl. Verger 1993b, S. 49.

Ehlers 1999, S. 79.

Vgl. Rüegg 1993b, S. 30. In diesem Aufsatz findet sich auch die Feststellung, dass „die Schulen des 12. Jahrhunderts und die Universität des 13. Jahrhunderts [...] sich nie das Ziel gestellt [haben], die Höfe und Städte mit Fachleuten zu versorgen. Wohl aber ist die neuartige soziale Gestalt der Universität von der Gesellschaft mitgeformt worden, ja erst das lebhafte Interesse weiter Kreise hat den hohen Schulen die Möglichkeit gegeben, zu beständigen und unabhängigen Einrichtungen zu werden. Von Anfang an steht die Lehre in der Spannung zwischen den ursprünglichen Trieb, die Wahrheit zu suchen, und dem Wunsch vieler, praktische Ausbildung zu finden.“ Rüegg 1993b, S. 29. Dazu sollte man aber addieren, dass diese „Wahrheitssuche“ der Gelehrten auch von dem Wunsch begleitet war, Einkommen zu erzeugen. Bezeichnenderweise findet die Ausbildung der Universität nämlich nicht in den Klöstern statt, sondern auf den Marktplätzen und an den „Knotenpunkten der Handels - und Pilgerwege“. Rüegg 1993b, S. 30. Allzu romantisierend die Liebe zur Erkenntnis in der Gründungsphase der Universitäten in den Vordergrund zu heben, vernachlässigt ein wenig die vielschichtigen, oft miteinander verzahnten Interessenebenen, die diesen Prozess in Gang setzten.

Vgl. Ehlers 1999, S. 76-77.

Vgl. Verger 1993b, S. 61.

Anziehend auf die Studierenden wirkten wohl auch attraktive Lehrer wie Petrus Lombardus, Petrus Comestor und Petrus Cantor, deren Lehrbücher noch weit bis ins Spätmittelalter und der Renaissance gelesen wurden. Vgl. Verger 1993b, S. 61.

Vgl. Verger 1993b, S. 61.

Vgl. Ehlers 1999, S. 79.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 109. Der Status beruhte auf dem kanonischen Recht und wurde durch das Scholarenstatut von 1155, der Authentica Habita, von Kaiser Friedrich I. erstmals geregelt. Zur Einordnung der Authentica Habita, die keine koordinierte, kaiserliche Hochschulpolitik einleitete, sondern eher in der Tradition der mittelalterlichen Schutzprivilegien steht, siehe Nardi 1993, S. 83.

Vgl. Verger 1993b, S. 61; Nardi 1993, S. 87f.

Vgl. Ehlers 1999, S. 77f.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 127.

Vgl. Nardi 1993, S. 90.

Vgl. Nardi 1993, S. 88.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 113.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 123. Auf dieser Seite sind auch die administrativen Abläufe beschrieben, die zur Einberufung eines Konvents einzuhalten waren.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 124. Zu den Fakultäten und Nationen siehe ab S. 28 und ab S. 34.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 125.

Vgl. Nardi 1993, S. 105f.; Ehlers 1999, S. 89; Farge 2006, S. XIf.

Vgl. Ehlers 1999, S. 88f. Der Gallikanismus wurde in der Pragmatische Sanktion von Bourges von 1438 in Frankreich öffentlich festgeschrieben. Vgl. Müller 1995, Sp. 166f.

Vgl. Nardi 1993, S. 102. Die Konflikte gingen quer durch alle nationes. Tendenzen waren aber auszumachen: Die französische und die normannische natio unterstützten Clemens VII. in Avignon, die pikardische und die anglogermanische den römischen Papst Urban VI. Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 262.

Vgl. Wulf 1909, S. 365, Fußnote 8.

Vgl. Nardi 1993, S. 103.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 185f.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 186.

Zur Regionalität einer Universität siehe Schwinges 1993a, S. 188. Im 14. und 15. Jahrhundert ergibt das statistische Material, dass drei Viertel aller Sudierenden die regionale Universität besuchen. Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 261.

Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 259f.

Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 269. Ridder-Smyoens spricht von einigen Hundert in Italien und nur ca. einhundert Studierenden in Frankreich.

Nachgewiesen ist de Meneses‘ Aufenthalt 1512 in Paris bei einer Disputation durch Farge 2006, Eintrag 293, S. 162.

Für den Titel siehe Wikipedia unter: http://en.wikipedia.org/wiki/Marquis_of_Vila_Real (besucht am 01.02.2016). Die Information über seinen Lehrer stammt aus Thiemann 2006, S. 80.

Vgl. Boxer 1981, S.15.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 110.

Vgl. Ehlers 1999, S. 83. Nachdem sich dieses 4-Fakultätenmodell der Parisier Universität in der frühen Neuzeit in Nord-, West- und Zentraleuropa durchgesetzt hatte, kategorisierte man die Pariser Universität als Volluniversität, weil es alle diese Fakultäten in einer Universität gab. Vgl. Wolgast 2002, Sp. 355.

Vgl. Leff 1993, S. 279.

Vgl. Ehlers 1999, S. 83.

Vgl. Farge 2006, Supplement 5, 6 u. 8, S. 611-615, 617.

Vgl. Farge 2006, S. XXIII. Damit stellte Paris in dieser Zeit eine der größten Universitäten. Vgl. Schwinges 1993b, S. 176.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 196.

Siehe dazu auch die letzen beiden Paragraphen des letzten Kapitels, S. 27.

Im Folgenden benutze ich den Term „Studierende“ für diejenigen, die an der Pariser Universität ihre Studien betreiben. Das schließt alle ein, die noch keinen Abschluss der Artistenfakultät erreicht haben. Studenten nutze ich nur, sobald jene gemeint sind, die zumindest baccalaureus sind.

Die Zeitangaben ergaben sich aus der Quellensammlung von Farge. Bei den dort beschriebenen Prüfungsdisputationen ergeben sich diese Zahlen. In den Quellen selbst wird nie der Term magister artium oder baccalaureus erwähnt. Man spricht über den Prüfling als einem exped[itus] de triennio cum dimidio oder einem exped[itus] de quinquennio. Ehlers gibt dagegen für das Bakkalaureat zwei bis zweieinhalb Jahre an und bis zur Magisterprüfung weitere zwei bis drei Jahre. Möglicherweise gab es Änderungen über die Jahrhunderte des Bestehens der Pariser Universität. Vgl. Ehlers 1999, S. 81.

Für arme Studierende scheint es Ausnahmen gegeben zu haben. Vgl. Schwinges 1993b, S. 174.

Vgl. Ehlers 1999, S. 83.

Keine der berühmten Ausnahmen von dieser Regel wie Magdalena Buonsignori studierte an der Pariser Universität. Vgl. Schwinges 1993a, S. 187.

Vgl. Schwinges 1993b, S. 161-163.

Vgl. Verger 1993a, S. 141. Ehlers schließt sich dem an. Vgl. Ehlers 1999, S. 81.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 182-185. Schwinges typologisiert auf diesen Seiten 5 Typen Studierende: Den 14-16jährigen Anfänger, den 16-19jährigen mit dem Ziel baccalaureus zu werden, den 19-21jährigen, der maigster artium werden will und zugleich lehrte und lernte, den Standesstudenten, der mit Geld und Ansehen die Artistenfakultät umgehen kann, und den Fachstudenten zwischen Mitte 20 und Mitte 30, der an den höheren Fakultäten eingeschrieben war und häufig nebenbei bereits arbeitete.

Eine Typologie von Studententypen bei Schwinges 1993a, S. 182-185. Siehe zu den Prüfungsveranstaltungen auch S. 52.

Schwinges 1993a, S. 182.

Anders bei Schwinges. Er nimmt an, dass es „theoretisch“ ohne Abschluss der Artistenfakultät möglich ist, an den höheren Fakultäten zu studieren. Vgl. Schwinges 1993a, S. 190.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 112.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 198.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 184.

Vgl. Farge 2006, S. X, Fußnote 8.

Vgl. Rüegg 1993b, S. 39.

Vgl. Rüegg 1993b, S. 47.

Vgl. Verger 1993a, S. 140.

Vgl. Verger 1993a, S. 139-142. Ursprünglich bezeichnete man als doctor nur den Beruf des Lehrers. Die höheren Fakultäten vergaben in Paris als zweiten Abschluss nach dem Bakkaleureat das Lizentiat. Dann folgte der Doktortitel.

Zu Clichtoveus im Allgemeinen vgl. Baier 2003, Sp. 208-213; Jaumann 2004a, S. 186f.

Matos 1950, S. 11f.

Allerdings wird dieser Kommentar im Liber de triplici motu nicht erwähnt.

Zum Lebenslauf von Jodocus Clichtoveus siehe Smolinsky 1996, S. 73f.

Vgl. Wallace 1969, S. 223.

Vgl. Jaumann 2004b, S. 395f.

Clerval 1894, S. 12.

Für ausführlichere Informationen zu diesem Lebensabschnitt von Clichtoveus siehe Smolinsky 1996, S. 75-79.

Vgl. Farge 2006, Eintrag 406 / 407, S. 229f.

Vgl. Farge 2006, Eintrag 519, S. 285.

Vgl. Ehlers 1999, S. 85.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 116.

Vgl. Farge 2006, S. XX.

Vgl. Rashdall et.al. 1936 (Neudruck 1997), S. 498-501. Das erste Collège, das Collège des Dix-huit, wurde 1180 nahe der Kathedrale Notre Dame de Paris gegründet.

Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 258.

Vgl. Verger 1993b, S. 69.

Vgl. Verger 1993b, S. 69.

Vgl. Ehlers 1999, S. 79.

Vgl. Verger 1993b, S. 68. Die Regulierungen scheinen über die Jahrhunderte hinweg zugenommen zu haben. Vgl. Rashdall et.al. 1936 (Neudruck 1997), S. 500-502.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 116.

Vgl. Farge 2006, S. XXII.

Vgl. Leitão 2000, S. 11.

Vgl. Farge 2006, u.a. Einträge 293 / 406 / 407 / 519 / 633 / 862 / 881 / 902 / 1049, S. 162 / 229 / 230 / 328 / 337f. / 450 / 458 / 467 / 535.

Vgl. Boulay 1673, S. 214.

Vgl. Farge 2006, Eintrag 519, S. 285.

Wallace bezeichnet Juan de Celaya als teacher von Domingo de Soto. Vgl. Wallace 1969, S. 222.

Vgl. Farge 2006, S. XXI.

Vgl. Slavitt 2000, S. 7.

Ein Gedicht von Dionysius Faber findet man im Münchner Typus: Thomas 1509, S. 2. Ein weiteres findet sich im Lissaboner Typus und im Sevillaer Typus auf dem jeweils vorletzten, bedruckten Blatt. Dass Dionysius Faber am Collége de Coqueret studierte, ist ersichtlich aus Farge 2006, Eintrag 881, S. 458.

An anderen französischen Universitäten war die Nationeneinteilung nicht notwendigerweise dieselbe wie an der Pariser Universität. In Orléans gab es beispielsweise zehn unterschiedliche nationes. Vgl. Gieysztor 1993, S. 114. Verger gibt als Jahr der Konstituierung der nationes 1220 an. Vgl. Verger 1993b, S. 63.

Vgl. Ehlers 1999, S. 82.

Thomas 1509, S. 281.

Studierende ohne Abschluss hatten nur indirekt, also über den regens, bei dem sie lernten, Zugang zu diesem Verband. Vgl. Schwinges 1993a, S. 196.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 114.

Joachim Ehlers interpretiert, dass Konflikte eher innerhalb als zwischen den nationes entstanden wären. Diese These scheint allerdings auf strukturellen Annahmen zu beruhen. Er spricht von der Spaltung der Christenheit beim Großen Abendländischen Schisma, die sich auch auf die nationes der Pariser Universität übertragen habe. Man könnte verstehen, dass die schottischen Studierenden daher die Position ihres Königs gegebenenfalls gegen die englischen Studierenden vertreten hätten. Das würde aber das bei Ehlers vorher verneinte Nationalgefühl der Studierenden voraussetzen. Vgl. Ehlers 1999, S. 82.

Vgl. Ridder-Smyoens 1993, S. 257.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 195.

Vgl. Gieysztor 1993, S. 125.

Vgl. Schwinges 1993a, S. 197.

Mehr zu den bolsas S. 28.