3 Der Inhalt, die Struktur und die Quellen von Pseudo-Proklos’ Sphaera

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10.34663/9783945561379-04

Citation

Biank, Johanna (2019). Der Inhalt, die Struktur und die Quellen von Pseudo-Proklos’ Sphaera. In: Pseudo-Proklos’ Sphaera: Die Sphaera-Gattung im 16. Jahrhundert. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Pseudo-Proklos’ Σφαῖρα ist eine griechische Einführung in die sphärische Astronomie: Εἰσαγωγὴ εἰς τὴν ἀστρολογίαν.1 Die Erstausgabe (Venedig, 1499) besteht aus sechzehn Kapiteln, aber ab der Baseler Ausgabe von 1523 wird Kapitel 6 „Über die Zahl der parallelen Kreise“ dem Kapitel 5 „Über die Größe der Parallelen“ einverleibt, so dass die Kapitelzahl sich auf fünfzehn reduziert.

Dieses Kapitel wird den Inhalt von Pseudo-Proklos’ Sphaera zusammenfassen und kommentieren und im Anschluss mit der Quelle Geminos’ Eisagoge und der Sphaera-Gattung (Sacroboscos Sphaera) vergleichen. Dabei gilt es zu zeigen, welche Themen aus Geminos’ Eisagoge ausgewählt worden sind, um die Sphaera zu bilden und welche nicht, bzw. welchen Inhalt und welche Quellen Geminos’ Eisagoge im Allgemeinen besitzt. Des Weiteren möchte ich erläutern, ob der Kompilator der Sphaera sich bei der Auswahl der Geminos-Kapitel thematisch an Sacroboscos Sphaera orientiert und ob Pseudo-Proklos’ Sphaera ein „besseres“ Lehrbuch darstellt als jenes des Sacrobosco, z. B. als neoplatonische Quelle unter Ablehnung eines scholastischen Traktats. Aussagen in eckigen Klammern sind ergänzende Erklärungen von mir, die nicht im Text von Pseudo-Proklos’ Sphaera stehen. Die Begriffsdefinitionen bei Geminos (Pseudo-Proklos) entnehme ich den Glossaren aus den Text-Ausgaben von Evans (2006), sofern nicht anders angegeben, von Gutenäcker (1830, ad loc.), Aujac (1975, Glossar im Anhang, ad loc.) und Szàbo (1992, Einleitung und Kommentar ad loc.).

Mein Vergleich zwischen Pseudo-Proklos’ Sphaera und Geminos’ Eisagoge sowie Pseudo-Proklos und Sacrobosco folgt der Reihenfolge von Pseudo-Proklos’ Kapiteln und basiert auf dem Text der ältesten griechischen Handschrift von Pseudo-Proklos’ Sphaera Mut.2 und der vollständigsten kritischen Edition von Geminos’ Eisagoge durch Germaine Aujac (1975); diese ist genauer als Manitius’ Ausgabe (1898), da Aujac eine neue Handschrift (Constantinopolitanus, gr. 40) zur Verfügung steht, auf der viele Kopien aus dem 16. Jahrhundert basieren.3 Sacroboscos Text entnehme ich der kritischen Ausgabe von Thorndike (1949).

3.1 Der Inhalt der Sphaera

3.1.1 Die Achse und die Pole

[Die Sphaera des Pseudo-Proklos beschreibt den Aufbau der Welt. Die Sphären sind kreisförmige Umgebungen, die sich ineinanderschachteln. Diese geometrischen Hilfsmittel dienen dazu, den Aufbau der Welt zu beschreiben und die Jahreszeiten und Tageslängen zu messen.]4

Die Erdkugel liegt unbeweglich im Zentrum der Welt; darum ist die Sphäre des Elements Wasser angeordnet. Dieses Grundwissen über das geozentrische Weltbild wird bereits bei den Lesern, also Studenten, vorausgesetzt, denn im Text werden nur die Grundelemente definiert, aus denen der Kosmos besteht. Der Text beginnt damit, dass der Kosmos eine Achse hat, um die sie sich dreht und deren Enden den Nord- und Südpol bilden (vgl. Abbildung 3.1). Die Pole sind von drei Orten der Erde sichtbar: In „unserer Wohngegend“ (ἡμετέρα οἴκησις) [also der Nordhalbkugel bzw. Geminos’ Heimat Griechenland]5 ist der Nordpol (a) immer sichtbar [denn er liegt über dem Horizont], auf der Südhalbkugel dagegen ist der Südpol (b) immer sichtbar [weil er unter dem Horizont liegt] und am Äquator sind beide Pole immer sichtbar [die beide auf dem Horizont liegen].

Abb. 3.1: Die Achse und die Pole a und b der Welt: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 1, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.1: Die Achse und die Pole a und b der Welt: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 1, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

3.1.2 Die Parallelkreise

Der Text fährt fort mit der Definition der Himmelskreise, die in drei Kategorien eingeteilt werden: „parallele“, „schiefe“ und „durch die Pole gehende Kreise“. Als „parallel“ werden solche Kreise definiert, welche „die gleichen Pole wie die Welt [und die Erde] besitzen“. [Man kann die Parallelkreise auch als „geographische Breitenkreise“ verstehen.] Sie werden mithilfe des Mittagsschattens des Gnomons [Schattenstab der Sonnenuhr] konstruiert.6 Die parallelen Kreise werden als theoretische Konstrukte zur Vermessung der Erde und des Himmels verstanden und hier auf Griechisch als „mit dem Verstand sichtbar“ (λόγῳ θεωρητός) bezeichnet. Innerhalb des arktischen Kreises liegen die „Sterne, die immer sichtbar sind“ [da sie wie der arktische Kreis über dem Horizont liegen; sie kreisen immer um ein gemeinsames unsichtbares Zentrum].7 Die fünf parallelen Kreise werden also als geometrische Kreise „ohne Breite“ (ἀπλατεῖς), d.h. ohne materielle Grundlage vorgestellt. Die Parallelkreise werden mit Instrumenten wie der Dioptra [ein Beobachtungsinstrument, das zur Sichtung von Objekten oder zur Winkelmessung verwendet wird]8 und mit der Position der Sterne gemessen. Qualitativ werden die fünf parallelen Kreise von physisch sichtbaren Kreisen wie der Milchstraße unterschieden. [Diese Unterscheidung entspricht auch den beiden Zweigen der Mathematik, die Proklos in seinem Kommentar zu Euklid von Geminos zitiert: die intelligible (νοητά) und die sichtbare (αἰσθητά) Mathematik, also Geometrie und Astronomie bzw. Optik.]

Zuerst werden im Text die fünf grundlegenden Parallelkreise beschrieben [welche auf der Erde die fünf Klimazonen bilden]: der arktische, der Sommerwendekreis, der Äquator, der Winterwendekreis und der antarktische Kreis. Der arktische Kreis wird durch seine Position im Sternbild der Großen Bärin bestimmt und durch seine Eigenschaft, den Horizont stets in einem Punkt (σημεῖον; vgl. Abbildung 3.2) zu berühren. [Hierdurch erscheint er immer als vollständiger Kreis über dem Horizont. Der arktische Kreis der griechischen Antike ist nicht mit unserem heutigen Polarkreis identisch.]9 Daher ändert er auch seine Größe, wenn die beobachtende Person nach Norden oder Süden wandert.10 Die Veränderlichkeit der arktischen Kreise in der griechischen Astronomie wird von vielen Kommentatoren zur Sphaera bemerkt. [Die Wendekreise und der Äquator besitzen dagegen (bei den Griechen wie auch heute) immer den gleichen Radius.] Die arktischen Kreise wachsen, bis sie die Position der Wendekreise, des Horizonts und des Äquators einnehmen und der Nordpol im Zenit steht, wenn der Beobachterstandpunkt nach Norden wandert (vgl. Abbildung 3.3 und 3.4). Nach Süden aber werden die arktischen Kreise kleiner, bis sie nicht mehr [theoretisch] sichtbar sind und zwei Pole auf dem Horizont liegen. Dann gibt es nur drei Parallelkreise, die beiden Wendekreise und den Äquator, und somit drei statt fünf Klimazonen [οἰκήσεις; vgl. Abbildung 3.5].

Abb. 3.2: Die fünf parallelen Kreise und der Horizont: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 4, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.2: Die fünf parallelen Kreise und der Horizont: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 4, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.3: Im Norden nehmen die arktischen Kreise und die Wendekreise dieselbe Position ein: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 9, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.3: Im Norden nehmen die arktischen Kreise und die Wendekreise dieselbe Position ein: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 9, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.4: Wenn der Nordpol im Zenith steht, nehmen der Horizont und der Äquator dieselbe Position ein: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 14, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.4: Wenn der Nordpol im Zenith steht, nehmen der Horizont und der Äquator dieselbe Position ein: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 14, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.5: Beide Pole liegen auf dem Horizont. Es sind keine arktischen Kreise sichtbar: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 15, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.5: Beide Pole liegen auf dem Horizont. Es sind keine arktischen Kreise sichtbar: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 15, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.6: Die 182 jährlichen Sonnenkreise: Aus der französischen Übersetzung des Élie Vinet von Pseudo-Proklos’ Sphaera (Paris, 1573), S. 10, Bibliothèque nationale de France Paris: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k624959/f10.image, besucht am 2.08.2019.

Abb. 3.6: Die 182 jährlichen Sonnenkreise: Aus der französischen Übersetzung des Élie Vinet von Pseudo-Proklos’ Sphaera (Paris, 1573), S. 10, Bibliothèque nationale de France Paris: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k624959/f10.image, besucht am 2.08.2019.

Der antarktische Kreis ist das symmetrische Gegenstück zum arktischen Kreis. Er besitzt dieselbe Größe wie der arktische Kreis, aber entgegengesetzte Eigenschaften, d.h. dass er „ganz unter der Erde [intellektuell] wahrgenommen“ wird und in ihm „die immer unsichtbaren Sterne“ liegen (ὅλος ὑπὸ γῆν ἀπολαμβανόμενος, ἐν ᾧ τὰ κείμενα τῶν ἄστρων διὰ παντὸς ἡμῖν ἐστιν ἀόρατα).

Der Äquator wird als der größte der fünf parallelen Kreise insgesamt definiert [also nicht in Bezug auf die Sichtbarkeit]. Seine Eigenschaft als „großer Kreis“ wird dadurch festgelegt, dass er nie ganz über dem Horizont „zu sehen ist“, sondern stets vom Horizont geteilt wird, so dass ein Halbkreis über dem Horizont liegt und ein Halbkreis darunter. Zweimal im Jahr, wenn die Sonne auf ihren parallelen Bahnen den Äquator berührt, finden Äquinoktien statt, also die „Tages-und-Nacht-Gleichen“ [an denen Tag und Nacht jeweils zwölf Stunden dauern]. Auf ihrem Weg nach Norden vollzieht die Sonne das Frühlingsäquinoktium [am 21. März im Zeichen des Widders] und auf dem Weg nach Süden das Herbstäquinoktium [um den 23. September im Zeichen der Waage].

Der Sommerwendekreis wird als „nördlichster Sonnenkreis“ definiert, der Winterwendekreis als „südlichster“, weil die Sonne sich innerhalb eines Jahres zweimal zwischen diesen beiden Kreisen, nach Norden und nach Süden, bewegt. Deshalb werden sie auch „Wenden“ genannt. Wenn die Sonne auf ihrem Weg nach Norden den Sommerwendekreis berührt, findet die Sommersonnenwende statt, d.h. der längste Tag im Jahr und die kürzeste Nacht [am 21. Juni]. Auf dieser Wende dreht die Sonne nach Süden, bis sie schließlich den Winterwendekreis berührt und die Wintersonnenwende mit dem kürzesten Tag und der längsten Nacht im Jahr [am 21. Dezember] stattfindet; anschließend kehrt die Sonne wieder nach Norden zurück.

Auf ihrem Weg von Süden nach Norden und von Norden nach Süden legt die Sonne innerhalb eines Jahres insgesamt zweimal 182 Kreise [also 364 Tage] zurück (vgl. Abbildung 3.6) [nach heutiger Rechnung 365 Tage und sechs Stunden]; sie dienen zur Positionierung der Sterne auf der Himmelssphäre und zur Bestimmung der Länge von Tag und Nacht. Für die „erste Einführung in die Astronomie“ aber sind nur fünf dieser 364 parallelen Kreise relevant und werden in der (Armillar-)Sphäre [oder im Himmelsglobus], „eingezeichnet“ bzw. „verstirnt“ (καταστερίζειν), da sie einen bestimmten Nutzen haben: die arktischen Kreise begrenzen die immer (un)sichtbaren Sterne, die Wendekreise kennzeichnen die Bewegungsrichtung der Sonne nach Norden oder Süden und wenn die Sonne den Äquator berührt, entstehen Äquinoktien.

Abb. 3.7: Nach Norden vergrößern sich die arktischen Kreise, und die Reihenfolge ändert sich: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 16, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.7: Nach Norden vergrößern sich die arktischen Kreise, und die Reihenfolge ändert sich: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 16, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Der Sphaera-Text fährt fort, die weiteren Eigenschaften der fünf Parallelkreise (Kapitel 3–8) zu erläutern. Die Teilung des Sommerwendekreises durch den Horizont gibt die Dauer des längsten Tages und der kürzesten Nacht an; in Rhodos [Geburtsort des Geminos] beträgt der längste Tag 14 ½ äquinoktische Stunden, die Nacht aber 9 ½ äquinoktische Stunden. Diese Werte entstehen aus der Rechnung mit 48 halben Stunden oder Äquinoktialstunden. [Der Sommerwendekreis wird also in 24 gleiche Stunden geteilt. Äquinoktialstunden sind immer gleichbleibende Stunden entsprechend den unsrigen – im Gegensatz zu den zunehmenden Tagen bis zur Sommerwende und den abnehmenden Tagen bis zur Winterwende – und dienen zu Rechenzwecken].11 Am Äquator dagegen wird der Sommerwendekreis vom Horizont in zwei gleiche Teile geteilt [weshalb Tag und Nacht gleichlang sind], wobei in Rhodos 29 Teile (29/48) über dem Horizont liegen und 19 (19/48) darunter.12

Nach Norden wird der Sommerwendekreis in ungleichere Teile geteilt, bis der er ganz über dem Horizont liegt [dann ändert sich auch die Reihenfolge der Parallelkreise], nach Süden in gleichere Teile. Die Grenze nach Norden liegt dort, wo der Sommerwendekreis sich ganz über dem Horizont befindet [nämlich zur Sommerwende bei 66°, 32’ nördlicher Breite].13 Nach Süden ist die maximale Differenz der Teilung des Sommerwendekreises dort erreicht, wo von acht Teilen des Sommerwendekreises drei Teile über der Erde liegen und fünf Teile darunter, wie Arat in seinen Phaenomena schreibt [bei der Wintersonnenwende].14 [Wenn man den Sommerwendekreis in acht Teile teilt, beträgt ein Teil 45°, fünf Teile 225° und drei Teile 135°];15 dort ist nämlich der Punkt der Wintersonnenwende erreicht mit dem längsten Tag von fünfzehn Äquinoktialstunden und der längsten Nacht von neun Äquinoktialstunden.16

Abb. 3.8: Die Antipoden und Antöken nach dem Horizont von Freiburg: Aus dem lateinischen Kommentar des Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit T. Linacres Übersetzung (Basel, 1561), S. 37. https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00071.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Abb. 3.8: Die Antipoden und Antöken nach dem Horizont von Freiburg: Aus dem lateinischen Kommentar des Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit T. Linacres Übersetzung (Basel, 1561), S. 37. https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00071.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Nicht nur die Sichtbarkeit und Größe der Parallelkreise verändert sich mit dem Beobachterstandpunkt, sondern auch die Reihenfolge der Kreise. In unserer Wohngegend bzw. der nördlichen Hemisphäre folgen die Parallelkreise der Reihenfolge arktischer Kreis, Sommerwendekreis, Äquator, Winterwendekreis und antarktischer Kreis. Für Menschen aber, die nördlicher wohnen, steht der Sommerwendekreis vor dem arktischen Kreis und der antarktische Kreis vor dem Winterwendekreis wegen der Vergrößerung der arktischen Kreise (vgl. Abbildung 3.7).

Der Sichtbarkeit, Größe und Reihenfolge der fünf Parallelkreise folgen ihre Eigenschaften, [wörtlich „Kräfte“ (δυνάμεις) bzw. ihre Korrelation mit den Jahreszeiten],17 nämlich die wechselnde Rolle der fünf Parallelkreise, die sich auf jedem Breitengrad ändert. Unser Sommerwendekreis übernimmt für die „Antipoden“ [d.h. die Menschen, die mit ihren Füßen auf der gegenüberliegenden Welthalbkugel stehen] (vgl. Abbildung 3.8) die Eigenschaften des Winterwendekreises. Am Äquator übernehmen alle Parallelkreise die Funktion von Äquatoren, weil dort immer Äquinoktien stattfinden; d.h. dass beide Wendekreise zu Winterwendekreisen werden, weil die Sonne die maximale Distanz zu ihnen hat.

Ein geometrischer Teil der Sphaera ist das Kapitel über die Proportionen und Abstände der fünf Parallelkreise, in welchem die Anzahl der Intervalle zwischen den Kreisen behandelt wird. [Wenn der ganze Meridian in „60 Teile“ geteilt wird, beträgt jeder Teil 6°.] Demnach hat der arktische Kreis mit „sechs Teilen“ vom Pol einen Abstand von 36°, der Sommerwendekreis einen Abstand von 30° (5 Teile) und der Äquator einen Abstand von 24° (4 Teile).18 Diese Abstände bleiben immer gleich, abgesehen von den Abständen der arktischen Kreise zu den Polen und zu den Wendekreisen [wie früher erwähnt].

3.1.3 Die Großkreise

Die Koluren

Nach der Beschreibung der fünf Parallelkreise folgt die Darstellung der „schiefen“ und „durch die Pole gehenden“ großen Kreise. Als „große Kreise“ gelten solche, welche den gleichen Mittelpunkt wie die [Erd-und-Wasser-]Sphäre haben; zu diesen gehören die Koluren, der Tierkreis, der Horizont und der Meridian.

Abb. 3.9: Der Tierkreis mit den Symbolen der zwölf Tierkreiszeichen: Titelbild des lateinischen Kommentars von Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera (Basel, 1561): https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00081.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Abb. 3.9: Der Tierkreis mit den Symbolen der zwölf Tierkreiszeichen: Titelbild des lateinischen Kommentars von Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera (Basel, 1561): https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00081.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Die Koluren schneiden die Pole der Welt auf ihrer Kreisumgebung (περιφέρεια; vgl. Abbildung 3.9). Sie gehen auch durch die Wendepunkte [und die Äquinoktien] und werden deshalb als Solstitial- und Äquinoktialkolur bezeichnet, die einander im rechten Winkel schneiden und die zwölf Tierkreiszeichen in 30° teilen. Der Begriff Kolouros, von Griechisch κωλύειν bzw. „verstecken“, leitet sich von der Tatsache ab, dass ein Teil dieses Kreises unsichtbar unter dem Horizont liegt, während andere Kreise im Kosmos ganz gesehen werden.

Der Tierkreis

Der Tierkreis (ζῳδιακός κύκλος; Kap. 10) ist ein schiefer Kreis, weil er die parallelen Kreise [in ungleiche Teile] schneidet. Er besteht aus einem nördlichen Band, einem mittleren, in dem sich die zwölf Tierkreiszeichen befinden und einem südlichen Band (vgl. Abbildung 3.10). [Der Tierkreis geht durch die Wendepunkte des Krebses und des Steinbocks sowie durch die Äquinoktien des Widders und der Waage und nimmt eine Breite von 12° ein.]

Dieses Kapitel enthält den Hinweis, dass die Namen der zwölf Sternzeichen zuvor im Text erwähnt wurden (ἃ δὲ προσαγορεύεται νότια). Jedoch ist die gemeinte Passage nicht Teil der Sphaera, sondern der Eisagoge Kap. I, 2; dort werden die zwölf Tierkreiszeichen „Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische“ aufgezählt.19

Abb. 3.10: Die zwölf Tierkreiszeichen: Aus dem Kommentar des lateinischen E. O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Basel, 1561, S. 47). https://gateway-bayern.de/VD16+P+4970, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Abb. 3.10: Die zwölf Tierkreiszeichen: Aus dem Kommentar des lateinischen E. O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Basel, 1561, S. 47). https://gateway-bayern.de/VD16+P+4970, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Der Horizont

Der Horizont trennt den sichtbaren vom unsichtbaren Teil des Kosmos, also die obere von der unteren Hemisphäre. Dabei wird unterschieden [wie auch bei den parallelen Kreisen] zwischen dem „sichtbaren“ (αἰσθητός) und dem „unsichtbaren, theoretischen Horizont“ (λόγῳ θεωρητός). Während der sichtbare Horizont (z. B. der Rand des Meeres) soweit sichtbar ist, wie unsere Sehkraft reicht, also bis zu 2.000 Stadien [372 km, was aus heutiger Sicht reichlich hoch erscheint] bleibt der intelligible Horizont von Norden nach Süden nur auf eine Distanz von 400 Stadien [74,4 km] derselbe und mit ihm alle Phänomene wie Tageslänge und Klima. Von Osten nach Westen gilt die Regel, dass auf demselben Parallelkreis [oder Breitengrad] die Phänomene die gleichen bleiben und dass es erst bei einem Abstand von 10.000 Stadien [1.860 km] einen anderen Horizont und eine andere Tageslänge, aber das gleiche Klima gibt. Der Horizont wird zwar nicht auf den Sphären [Globen] eingezeichnet, weil er sich nicht mit der Sonne bewegt, sondern mit dem Zenit des Beobachters, aber von der Stellung der Sphäre [also des Horizontrings] lässt sich erkennen, nach welchem Ort die Sphäre [Globus] eingestellt wird; im Falle von Geminos nach Griechenland (vgl. Abbildung 3.11).

Abb. 3.11: Der Horizontring des Globus: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos (London, 1620), S. 20, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.11: Der Horizontring des Globus: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos (London, 1620), S. 20, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Der Meridian

Neben den Koluren, dem Tierkreis und dem Horizont wird noch der Großkreis „Meridian“ behandelt, der [wie die Koluren] durch die Pole der Welt geht. Sein Name stammt von dem griechischen Wort μεσημβρία („Mittag“), denn der Mittag bezeichnet den Moment, wo an jedem Ort die Sonne im Scheitel auf dem Meridian steht. Gleichzeitig markiert der Meridian die Mitternachtsstunde. Der Meridian ist genauso unbeweglich [bewegt sich nicht mit der Sonne] wie der Horizont, und wird deshalb nicht in den Globen eingezeichnet [oder zumindest nicht alle, denn jede Stadt hat einen eigenen Meridian]. Auf eine Distanz von 30 Stadien [5.580 m] bleibt der geometrische Meridian [des Globus] von Osten nach Westen [mit dem Breitengrad] sichtbar derselbe, „gemäß der Genauigkeit der Rechnung“ [κατὰ τὴν πρὸς τὸν λόγον ἀκρίβειαν], von Norden nach Süden [auf dem Längengrad] sogar auf eine Distanz von 10.000 Stadien [1.860 km; auf der Erdkugel lassen sich unendlich viele Meridiane einzeichnen (vgl. Abbildung 3.12), aber hier wird ein exemplarischer Meridian beschrieben].

Abb. 3.12: Die Meridiane: Aus dem lateinischen Kommentar des Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Basel, 1561), S. 64: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00098.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Abb. 3.12: Die Meridiane: Aus dem lateinischen Kommentar des Erasmus O. Schreckenfuchs zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Basel, 1561), S. 64: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10170643_00098.html, besucht am 2.08.2019, digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Die Milchstraße

Der letzte beschriebene Kreis ist die Milchstraße in Kap. 13. Sie nimmt als physischer, nicht-geometrischer Kreis eine Sonderstellung ein und wird als einziger sichtbarer Kreis nicht im Globus eingetragen. [Dagegen gibt es antike Quellen wie Prolemaios, die belegen, dass die Milchstraße in den Globen eingezeichnet wird.]20 [Deshalb entspricht hier die Darstellung eher einer Armillarsphäre, in welcher die unregelmäßigen Sternhaufen der Milchstraße nicht dargestellt werden können.]

Die Milchstraße wird als schiefer Kreis definiert, der auf dem Wendekreis liegt und aus unregelmäßigen, nebulösen Elementen oder Sternhaufen besteht [συνέστηκε δὲ ἐκ βραχυμερίας νεφελοειδοῦς; andere Theorien der Milchstraße bleiben unerwähnt.]21

3.1.4 Die Klimazonen

[Nachdem alle Himmelskreise, die zum Verständnis des Himmels „nützlich“ sind, erklärt wurden, kommen in Kap. 14 die Zonen der Erdsphäre an die Reihe. Gemeint sind die Klimazonen, welche durch die fünf auf die Erde projizierten Parallelkreise begrenzt werden.] Die beiden äußeren Zonen, die um die Pole liegen, werden κατεψυγμέναι [„gefrorene“] genannt, die nicht bewohnbar sind wegen der Kälte [ἀοίκητοι διὰ τὸ ψυχρός εἰσίν]. Die angrenzenden Wendekreise werden „gemäßigte“ genannt [εὔκρατοι]. Von den zwei gemäßigten Zonen wird eine von den Menschen der nördlichen Hemisphäre bewohnt [ὑπὸ τῶν ἐν τῇ καθ’ ἡμᾶς οἰκουμένῇ], deren Länge [μῆκος] 100.000 Stadien [18.600 km] und deren Breite 50.000 Stadien [9.300 km] beträgt. Die mittlere Zone heißt „verbrannte“ (κεκαυσμένη) und wird vom Äquator in zwei Teile geteilt, die unterhalb des Himmelsäquators liegen (vgl. Abbildungen 3.13, 3.14).

Abb. 3.13: Die fünf Klimazonen: Aus dem lateinischen Kommentar des Jacques Toussain zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Paris, 1560), S. 14r: http://bdh-rd.bne.es/viewer.vm?id=0000000582, besucht am 2.08.2019, Biblioteca Nacional de España Madrid.

Abb. 3.13: Die fünf Klimazonen: Aus dem lateinischen Kommentar des Jacques Toussain zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Paris, 1560), S. 14r: http://bdh-rd.bne.es/viewer.vm?id=0000000582, besucht am 2.08.2019, Biblioteca Nacional de España Madrid.

Abb. 3.14: Die fünf Klimazonen: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 30, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

Abb. 3.14: Die fünf Klimazonen: Aus der lateinischen Übersetzung des John Bainbridge von Pseudo-Proklos’ Sphaera (London, 1620), S. 30, ÖNB/Wien: BE.5.O.21.Alt.

3.1.5 Die Sternbilder

Nachdem der Tierkreis schon früher in Kap. 10 thematisiert wurde, werden im letzten Kapitel 15 die Namen der 22 nördlichen und achtzehn südlichen Tierkreiszeichen aufgelistet (vgl. Abbildungen3.15, 3.16). Einige Sterne werden als „hell“ (λαμπρός) definiert, [womit ihre Strahlkraft gemeint ist, durch die sie sich von den anderen Sternen unterscheiden]; z. B. „wird der auf dem äußersten Band liegende helle Stern ,Knoten‘ genannt.“ Außerdem heißen einige Sterne nach dem Zeichen, in dem sie liegen, z. B. der „Hunds-Stern“ [κύον]. [Bei dem Stern Canopus liegt in der ersten Druckausgabe von 1499 ein Schreibfehler vor, der erst in der Ausgabe von 1523 korrigiert wird, nämlich dass der Stern Canopus in Alexandria unsichtbar sei. Valla, der eine andere bessere Handschrift verwendet als Linacre, begeht den Fehler nicht (Mut.). Der Stern Canopus ist nämlich in Rhodos sichtbar und in Alexandria auch (falsch ist „unsichtbar“), weil der Canopus um den vierten Teil eines Zeichens über dem Horizont von Alexandria liegt. Wenn der Tierkreis aus zwölf Zeichen besteht, nimmt jedes Zeichen 30° ein; der vierte Teil eines Zeichens beträgt also 7°, 30’. Alexandria liegt bei 31° nördlicher Breite, weshalb man den Canopus in Alexandria bei 51°, 30’ sehen kann.]22

Abb. 3.15: Die Sternbilder: Aus dem lateinischen Kommentar des Jacques Toussains zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Paris, 1560), S. 11r, Biblioteca Nacional de España Madrid, aus: http://bdh-rd.bne.es/viewer.vm?id=0000000582, besucht am 2.08.2019.

Abb. 3.15: Die Sternbilder: Aus dem lateinischen Kommentar des Jacques Toussains zu Pseudo-Proklos’ Sphaera mit Thomas Linacres Übersetzung (Paris, 1560), S. 11r, Biblioteca Nacional de España Madrid, aus: http://bdh-rd.bne.es/viewer.vm?id=0000000582, besucht am 2.08.2019.

Abb. 3.16: Die Sternbilder: Titelblatt von Jacques Toussains lateinischem Kommentar zu Pseudo-Proklos’ Sphaera (Paris, 1547). Yale University Beinecke Library: 2003, 713: http://beinecke1.library.yale.edu/pdf/2003_713_complete.pdf, besucht am 2.08.2019.

Abb. 3.16: Die Sternbilder: Titelblatt von Jacques Toussains lateinischem Kommentar zu Pseudo-Proklos’ Sphaera (Paris, 1547). Yale University Beinecke Library: 2003, 713: http://beinecke1.library.yale.edu/pdf/2003_713_complete.pdf, besucht am 2.08.2019.

3.2 Der Vergleich mit Geminos

Geminos fasst in der Eisagoge die allgemeine Astronomie seiner Zeit zwischen Hipparchos und Ptolemaios ohne mathematische Genauigkeit zusammen. Nur in dem Kapitel über die lunisolaren Kreise verwendet Geminos Arithmetik und erwähnt die Umlaufzeiten der Planeten unter Hinzufügung literarischer Beispiele.23 Auch die stoische Physik und philosophische Abschnitte wie bei Kleomedes oder Theon von Smyrna fehlen.24 Insgesamt hat Geminos das Werk wohl als elementares Lehrbuch für Studenten konzipiert,25 da er elegante Prosa über mathematische Genauigkeit stellt.26 Im Folgenden sollen nun Pseudo-Proklos’ Sphaera und Geminos’ Eisagoge hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Struktur verglichen werden.

Der Umfang der Sphaera entspricht etwa einem Viertel von Geminos’ Eisagoge und besitzt eine veränderte Kapitelreihenfolge; weil das Kapitel über die Sternbilder an den Schluss des Textes gesetzt wird. Auch fehlen die ersten Worte von Geminos’ Kap. 5 am Anfang des Sphaera-Textes: „Da dem Kosmos eine Sphärengestalt zugrunde liegt“ (Τοῦ δὲ κόσμου σφαιροειδοῦς ὑπάρχοντος). Stattdessen lautet der erste Satz: „Sein [des Kosmos] Durchmesser wird ,Achse‘ genannt“ (ἄξων καλεῖται ἡ διάμετρος αὐτοῦ), aber das Wort Sphaera taucht bereits im Titel auf. Ansonsten ist der Text der Sphaera mit den Kapiteln der Eisagoge identisch.

Kapitel in Pseudo-Proklos’ Sphaera Kapitel in Geminos’ Eisagoge Thema
1 4 Die Achse und die Pole
2 5 Die fünf parallelen Kreise
3 5 Warum es nur fünf Kreise in der Sphäre gibt
4 5 Über das Erscheinen und Verschwinden der fünf parallelen Kreise
5 5 Über die Größe der fünf parallelen Kreise
6 5 Über die Position der fünf parallelen Kreise
7 5 Die Macht der fünf parallelen Kreise
8 5 Die Abstände der fünf parallelen Kreise
9 5 Die Koluren
10 5 Der Tierkreis
11 5 Der Horizont
12 5 Die Meridiane
13 5 Die Milchstraße
14 15 Über die fünf Zonen
15 3 Die Namen der Sternzeichen

Tab. 3.1: Die Struktur von Pseudo-Proklos’ Sphaera im Vergleich zu Geminos’ Eisagoge

Tab. 3.1: Die Struktur von Pseudo-Proklos’ Sphaera im Vergleich zu Geminos’ Eisagoge

Wie die Tabelle 3.1 zeigt, werden die vier entnommenen Kapitel in fünfzehn unterteilt (vgl. das Kapitel Inhalt und Struktur der Sphaera). Die Kapitel sind erstmalig in der editio princeps (1499) belegt und dienen wohl dazu, das Werk für Studenten übersichtlicher zu gestalten. Kap. 1 der Sphaera über die Achse und die Pole des Kosmos stammt aus Geminos’ Kap. 4, die Kapitel über die Parallelkreise und die Großkreise aus Geminos’ Kap. 5.27 Kap. 14 über die Klimazonen und Kap. 15 über die Namen der Sternbilder entsprechen Geminos’ Kap. 15 und 3.

Die Liste der nördlichen Konstellationen bei Geminos ist beinahe identisch mit der des Arat, was erklären könnte, warum Pseudo-Proklos’ Sphaera mehrfach mit dem Arat-Text gedruckt wird.28 Allerdings bereichert Geminos die bei Arat bekannten Sternbilder29 um das Zeichen προτομὴ ἵππου („Pferdekopf“ oder equuleus), das hier zum ersten Mal in der griechischen Tradition erwähnt wird. Geminos mag es der Arat-Übersetzung des lateinischen Autors Caesar Germanicus (1. Jh. n. Chr.) entnommen haben, die dieses Sternbild enthält und ebenfalls der editio princeps (1499) beigegeben ist.30

Zum Sternbild „Haar der Berenike“ (βερενίκη πλόκαμος) erwähnt Geminos den Dichter Kallimachos von Kyrene (ca. 303–245 v. Chr.). Die übrigen Zitate decken ein breites Bild der Astronomiegeschichte ab. Geminos erwähnt sowohl die Chaldäer (1. Jtd. v. Chr.) als auch die Ägypter (vor 4000 v. Chr.–395 n. Chr.) und die Pythagoreer (6. Jh. v. Chr.). Die Dichter Homer und Hesiod und griechische Philosophen des 5.–2. Jahrhunderts v. Chr. wie Aristoteles werden auch erwähnt.31 Die Praxis, Dichtung zur Auflockerung und Veranschaulichung des Textes zu zitieren, findet sich schon bei anderen Autoren von Einführungswerken wie Kleomedes, Theon von Smyrna und Leptines (2. Jh. v. Chr.).

Aus dem Zusammenhang der ganzen Eisagoge werden einige Begriffe im Sphaera-Text deutlicher. Diese Begriffe werden in der Renaissance als bekannt vorausgesetzt oder in Kommentaren erläutert. Den titelgebenden Begriff Sphaera z. B. erklärt Geminos in einem anderen Kapitel der Eisagoge als „materielle Sphäre“ (σφαῖρα στερεά, Kap. XVI, 12) und „beringte Sphäre“ (Armillarsphäre; σφαῖρα κρικωτή, XVI, 10; 12).32 Die Armillarsphäre (Gem. XVI, 10,12) ist ein Instrument, das den Erdglobus im Zentrum und außen das Himmelsgewölbe zeigt mit dem Äquator, den Wendekreisen, dem arktischen Kreis, dem Tierkreis und den Koluren. Diese Sphäre dreht sich um ihre Achse, so dass sie eine veränderte Polhöhe und die tägliche Umdrehung der Sonne imitiert. Auch die Dioptra (διόπτρα) ist um ihre Achse beweglich und erlaubt, den Tierkreis in gleiche Teile zu teilen (I, 4) und am Himmel die parallelen Kreise (V, 11) und die kreisförmigen Bewegungen des Fixsternhimmels festzulegen (XII, 4).

Ein Alleinstellungsmerkmal von Geminos’ Eisagoge unter den griechischen Quellen ist ihre Darstellung der babylonischen Mondtheorie und der lunisolaren Kreise. Auch erwähnt Geminos als erster griechischer Autor einen Erdglobus, den ein sog. Krates von Mallos († um 145 v. Chr.) entworfen hat,33 und einen der ersten Kalender, der auf drei früheren Kalendern von Euktemon (5. Jh. v. Chr.), Eudoxos (frühes 4. Jh. v. Chr.) und Kallippos (spätes 4. Jh. v. Chr.) basiert.34 Alle diese Besonderheiten, bis auf die Konstellation des Hipparchos, sind im Sphaera-Text nicht enthalten. Ferner spart die Sphaera Themen aus, die mit Zeitmessung zusammenhängen (abgesehen von der Sonnenbewegung),35 die Bewegung der Sterne und Planeten,36 astrologische Deutungen,37 technische Abschnitte38 und speziellere Themen,39 die schon in Kurzform in der Sphaera behandelt wurden.40 Somit ist die Sphaera eine kurze und elementare Version der Eisagoge und sicher eine intentionsgeleitete Bearbeitung. Es geht dem Kompilator der Sphaera also nicht um die Zusammenfassung der Besonderheiten der Eisagoge, sondern der zentralen Themen der antiken Kosmologie bzw. um die grundlegende Darstellung des Erd- und Wasserglobus, mit anderen Worten: „alles, was Kreis ist“.41

Abb. 3.17: „Das Ende der Sphaera“ des Proklos. Abschluss der griechischen Handschrift Grec. 2489, Bibliothèque nationale de France Paris, Bl. 79 (252).

Abb. 3.17: „Das Ende der Sphaera“ des Proklos. Abschluss der griechischen Handschrift Grec. 2489, Bibliothèque nationale de France Paris, Bl. 79 (252).

3.3 Der Vergleich mit Sacroboscos Sphaera

Obwohl Sacroboscos Sphaera bereits als Standardlehrbuch der elementaren Astronomie an europäischen Universitäten gilt, wird die Sphaera des Pseudo-Proklos parallel dazu unterrichtet. Es schließt sich die Frage an, welche Vorteile Pseudo-Proklos’ Text gegenüber dem des Sacrobosco bietet. Beide Texte stellen Einführungen in die sphärische Astronomie mit dem Titel Sphaera dar, wobei Pseudo-Proklos’ Text mit 3.400 Wörtern wesentlich kürzer ist als jener des Sacrobosco mit 9.000 Wörtern.42 Zwar folgt Sacroboscos Sphaera äußerlich nicht der klassischen scholastischen Quaestio-Struktur, ist jedoch in der ganzen Vorgehensweise durch die scholastische Methodik geprägt. Hier mag die proklische Sphaera einen anderen Zugang zur schwierigen Thematik der sphärischen Astronomie versprochen haben.

Wie in der Tabelle 3.2 sichtbar ist, behandeln beide Texte dieselben Themen, nämlich die Achse und die Pole, die fünf Parallelkreise, die Klimazonen und die Konstellationen. Themen, die Sacroboscos Text nicht enthält (vgl. Tabelle 3.3), sind die Größe, Abstände und Wirkungen der fünf Parallelkreise, die Milchstraße und die Namen der Sternzeichen. Pseudo-Proklos’ Text dagegen thematisiert nicht die Sphärendefinition und Phänomene wie das Auf- und Untergehen der Zeichen und die Planetenbewegungen. Während Pseudo-Proklos’ Sphaera wie die Darstellung eines Himmelsglobus oder einer Armillarsphäre erscheint,43 stellt Sacroboscos Text ein Weltbild mit der Definition der Sphäre und der Himmelsphänomene bzw. -bewegungen dar, basierend auf der fortgeschritteneren Abhandlung des Ptolemaios. Dies liegt darin begründet, dass Pseudo-Proklos’ Sphaera eine wörtliche Übernahme der Eisagoge ist, Sacroboscos Sphaera dagegen eine mittelalterliche Synthese von Ptolemaios’ mathematischem Almagest (2. Jahrhundert) und Al-Farghanis aristotelisch-arabischer Zusammenfassung des Almagest mit christlichen Elementen wie Gott als Schöpfer der vier Elemente und der „wunderbaren Passion“ Jesu (passio miraculosa, Kap. 1), zu der eine wunderbare Sonnenfinsternis bei Vollmond stattfand; üblicherweise findet sie bei Neumond statt, wozu Sacrobosco den christlichen Autor Dionysios Areopagita (†1. Jh. n. Chr.) zitiert. Von Al-Farghanis Zusammenfassung des Almagest mit dem Titel Elementa übernimmt Sacrobosco den Kalender der Araber und der „Barbaren“ (Syrer, Römer und Perser, Kap. 1) und die arabischen Städte in den Klimazonen (Kap. 9). Dagegen zitiert Pseudo-Proklos bzw. Geminos keine arabischen Autoren, sondern Verse des Arat auf Griechisch. Sacrobosco nennt lateinische Verse von Dichtern wie Vergil und Ovid u. a.44 Auch Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ist eine offenbare Quelle des Geminos45 und behandelt wie Sacrobosco die Himmelskreise und die Planetenbewegungen.

Themen Pseudo-Proklos’ Sphaera Sacroboscos Sphaera
Die Achse und die Pole Kap. 1 Kap. 1
Die Himmelskreise Kap. 2–5; 9–12 Kap. 2
Der Tierkreis Kap. 3 Kap. 3
Die Tage und Nächte Kap. 4 Kap. 3
Die Konstellationen Kap. 15 Kap. 2
Die Klimazonen Kap. 14 Kap. 2

Tab. 3.2: Inhaltliche Überschneidungen zwischen Pseudo-Proklos’ Sphaera und Sacroboscos Sphaera

Tab. 3.2: Inhaltliche Überschneidungen zwischen Pseudo-Proklos’ Sphaera und Sacroboscos Sphaera

Pseudo-Proklos’ Sphaera Sacroboscos Sphaera
Kap. 6–8: Die Eigenschaften der fünf Parallelkreise
Kap. 13: Die Milchstraße
Das Proömium
Kap. 1: Die Definition der Sphäre
Kap. 3: Das Auf- und Untergehen der Sterne
Kap. 4: Die Planetenbewegungen, die Ursachen der Finsternisse

Tab. 3.3: Inhaltliche Abweichungen zwischen Pseudo-Proklos’ Sphaera und Sacroboscos Sphaera

Tab. 3.3: Inhaltliche Abweichungen zwischen Pseudo-Proklos’ Sphaera und Sacroboscos Sphaera

Allerdings sind einige Themen des Sacrobosco, die Pseudo-Proklos’ Sphaera nicht thematisiert, in anderen Kapiteln des Geminos zu finden wie die Auf- und Untergänge der Zeichen (Sacrobosco Kap. 3; Geminos Kap. 7; 13), die Bewegungen von Mond und Sonne (Sacrobosco 4; Geminos 9–11), die Planetenbewegungen (Sacrobosco Kap. 2; 4; Geminos Kap. 12) sowie die Definition eines „Zeichens“ (Sacrobosco Kap. 2; Geminos Kap. 1). Also unterscheiden sich Geminos’ Eisagoge und Sacroboscos Sphaera weniger voneinander als Pseudo-Proklos’ Sphaera und Sacroboscos Sphaera. Denn Pseudo-Proklos’ Sphaera bildet ein elementareres und kürzeres Lehrbuch als Sacroboscos Text, das komplizierte Themen ausspart. So scheint Pseudo-Proklos im Gegensatz zu Sacrobosco alle physikalischen Bewegungen, bis auf die der Sonne, wegzulassen.

Von der Struktur her steigt Sacroboscos Sphaera nicht gleich in den Text ein, sondern beginnt mit einem Proöm, das den Inhalt der vier Kapitel der Sphaera zusammenfasst, d.h. 1. die Definition der Sphäre, der Achse und der Pole, 2. die Kreise der sub- und supralunaren Welt,46 3. das Auf- und Untergehen der Zeichen, die Bewegung der Sonne, der Unterschied von Tag und Nacht und die Klimazonen sowie 4. die Planetenbewegungen und die Ursachen der Sonnen- und Mondfinsternisse (Eklipsen).47

Das titelgebende Thema, die „Sphäre“, definiert Geminos im Sphaera-Text nicht ausdrücklich, sondern erwähnt nur, dass die Oberfläche der Erde „sphärenförmig“ (σφαιροειδὴς, Kap. 14) sei, Sacrobosco aber nennt die Begründung dazu (S. 1). Zuerst beweist Sacrobosco die sphärische Gestalt des Himmels mit den drei aristotelischen Argumenten der Ähnlichkeit, Übereinstimmung und Notwendigkeit:48 Als zweites Argument wird die sichtbare Bewegung der Planeten (Exzenter, Äquant, Deferent, Epizykel) um die Erde angeführt (Sac. Kap. 4), die Sacrobosco aus Ptolemaios’ Almagest, Buch I und Al-Farghanis Elementa, Kap. 14–15 entnommen hat. Auch im Beweis der Erdsphärizität folgt Sacrobosco Al-Farghanis Gleichnis des Ufers, das vom Mastkorb eines Schiffes aus gesehen werden kann, während eine Person am Fuße des Mastes es nicht mehr sehen kann. Außerdem argumentiert Sacrobosco mit dem homogenen Charakter des Wassers nach Aristoteles: Da Wasser ein homogener Körper ist, muss es die gleiche Beschaffenheit haben wie seine Einzelteile, die Regentropfen. Grundlegend für die Definition des sphärischen Kosmos bei Sacrobosco ist, dass die Erde im Zentrum des Kosmos liegt und die Sonne sich darum dreht (Kap. 1), was er mit der aristotelischen Lehre des natürlichen Ortes und der Schwere des Elements „Erde“ (Ptol. 1,7) verteidigt. Wenn die Erde nicht im Zentrum des Kosmos wäre, würden wir nicht die Hälfte des Himmels sehen können, wie Ptolemaios schreibt: „wo auch immer man lebt, gehen sechs Zeichen auf und sechs Zeichen unter, und die Hälfte des Himmels ist immer sichtbar, die andere Hälfte immer verborgen.“49

Die Parallelkreise definiert Geminos als paralleli quasi eque distantes bzw. als Kreise, welche dieselben Pole wie der Kosmos haben, Sacrobosco als solche, die „in jedem Punkt den gleichen Abstand (zur äußeren Umgebung) besitzen“ (Sacrobosco, Kap. 2). Diese fünf (Himmels-)Kreise bilden (als Projektionen auf der Erde) die Klimazonen, wie Sacrobosco schreibt, was bei Pseudo-Proklos nur aus der Beschreibung der Kreise in Kap. 2 und der Klimazonen in Kap. 14 deutlich wird. Außerdem werden bei Pseudo-Proklos die Parallelkreise vom Pol des Beobachters bzw. seines Standortes konstruiert;50 dadurch unterscheidet sich seine astronomische Lehre von jener des Sacrobosco, der die Kreise vom Horizont des Tierkreises bildet (wie heute noch üblich).51 In der Etymologie des arktischen Kreises schreibt Sacrobosco statt arctos („Bärin“) fälschlich arthos; dieses Wort existiert im Griechischen nicht.

Der Äquator oder ἰσημερινός (isemerinos) wird bei Geminos und Sacrobosco als größter der parallelen Kreise definiert; Sacrobosco unterscheidet ihn von den Großkreisen wie dem Meridian, dem Horizont oder den Koluren. Geminos aber definiert den Äquator als einen der fünf parallelen Kreise (die arktischen und die Wendekreise). Für ihn sind die „größeren Kreise“ (Kap. 13) jene, „welche das gleiche Zentrum wie die Sphäre haben“. Ähnlich formuliert Sacrobosco, die großen Kreise bei Sacrobosco würden sich dadurch auszeichnen, dass sie die Sphäre über ihrem Zentrum in zwei gleiche Teile teilen, während die kleinen Kreise die Sphäre in ungleiche Teile teilen (Sac. Kap. 2). Den Begriff „Äquator“ leitet Sacrobosco von dem Sommer- und dem Winter-Äquinoktium (equinoctium) ab und nennt verschiedene Bezeichnungen dafür: equinoctialis, weil er den Tag und die Nacht gleichmache (aequare), cingulus primi motus bzw. „Gürtel der ersten Bewegung“, weil er das primum mobile, die sog. „neunte Sphäre“ bei Ptolemaios, in zwei gleiche Teile mit gleichem Abstand von den Polen der Welt teile. Auch Geminos leitet die Bezeichnung „Äquator“ oder „Äquinoktium“ von den Tag- und Nachtgleichen (Äquinoktien) her. Diese nennt er Frühlings- und Herbst-Äquinoktium (ἰσημερία ἐαρίνη ἰσημερια φθινοπορίνη; isemeria earine isemeria pfthinoporine).

Eine andere Begriffsherleitung bei Geminos ist jene des Kolurs oder κολοῦρος (kolouros) von κωλύειν (kolyein), „verstecken“. Einige Teile des Kolurs liegen nämlich unsichtbar unter dem Horizont, während andere Kreise im Kosmos ganz gesehen werden. Die Koluren gehen durch die Wendekreise und teilen den Tierkreis in 30 gleiche Teile. Sacrobosco dagegen leitet die Bezeichnung fälschlich von κῶλον (colon) ab, d.h. ein „Teil“, und οὖρος (uros), „wilder Ochse“, weil der gehobene Schwanz des wilden Ochsen ein Teil dieses Kreises ist. Der Ochsenschwanz beschreibt einen Halbkreis und wird deshalb immer nur zur Hälfte gesehen. Die Funktion der Koluren ist es laut Sacrobosco, zwischen Solstitien und Äquinoktien zu unterscheiden („Äquinoktialkolur“ und „Solstitialkolur“). Der erste Kolur, der die Solstitien unterscheidet, geht durch die Pole des Universums und des Tierkreises. Wo der Kolur den Tierkreis im ersten Zeichen des Krebses schneidet, wird er „Punkt des Sommersolstitiums“ genannt, denn wenn die Sonne diesen Punkt trifft, gibt es ein Sommersolstitium. In diesem Zusammenhang erklärt Sacrobosco auch den Zenit als „Punkt am Firmament direkt über unseren Köpfen“, oder später als „Pol des Horizonts“, während bei Geminos der Begriff „Zenith“ unerwähnt bleibt. Der Teil des Kolurs zwischen dem Sommersolstitium und dem Äquinoktium wird „größte Deklination der Sonne“ genannt und beträgt nach Ptolemaios 23° und 51 min, nach Almeon 23° und 33 min. Der erste Punkt des Steinbocks wird „Punkt des Wintersolstitiums“ genannt und der Scheitel des Kolurs, der zwischen diesem Punkt und dem Äquinoktium liegt, „größte Deklination der Sonne“. Die Zeichen der Solstitien (Wenden) und der Äquinoktien (Tagesgleichen) verinnerlicht Sacrobosco in diesem Merkspruch: Hec duo solstitia faciunt: Cancer, Capricornus. / Sed noctes equant Aries et Libra diebus.

Ein anderer Großkreis, der Horizont, wird bei Pseudo-Proklos nach gängiger Auffassung antiker Astronomie in den sichtbaren und den unsichtbaren, gedachten Horizont geteilt. Sacrobosco dagegen erwähnt (nach Aristoteles) den „rechten und den obliquen Horizont“. Der Pol des „rechten Horizontes“ liegt über dem Äquator, geht durch die Pole der Welt und schneidet den Äquator im rechten Winkel. Der „oblique Horizont“, Sphaera obliqua oder „geneigte“ genannt, besitzt denselben Pol wie der Kosmos und schneidet den Äquator in ungleichen schiefen Winkeln.

Der nächste Großkreis Meridian ist sowohl in der pseudo-proklischen Sphaera (Kap. 12) als auch bei Sacrobosco (Kap. 2) ein Kreis, der durch die Pole des Kosmos und den „Zenit“ bzw. das Zeichen im Scheitel geht (τὸ κατὰ κορυφὴν σημεῖον). Auf ihm vollzieht die Sonne die Hälfte der Tage und Nächte. Sacrobosco schreibt außerdem: „Der Bogen des Äquinoktiums zwischen den beiden Meridianen heißt ,Längengrad‘ [longitudo] der Stadt. Wenn zwei Städte denselben Meridian haben, dann sind sie gleich weit entfernt von Osten und von Westen.“

Die Milchstraße behandelt Sacrobosco gar nicht, Pseudo-Proklos nur in Kürze (vgl. oben den Abschnitt zum Inhalt der Sphaera). Pseudo-Proklos und Sacrobosco beschreiben die temperierten Zonen als bewohnbar, die heiße Zone und die kalten Zonen aber als unbewohnbar wegen der Hitze bzw. der Kälte. Die Wendekreise sind bei Sacrobosco bewohnbar, weil sie durch die Kälte und Hitze der benachbarten arktischen äquinoktialen Kreise temperiert sind. Den Zonen selber ordnet Sacrobosco keine Namen zu, erwähnt aber die Länge des längsten Tages und die Elevation der Pole über den Horizont in Graden und Meilen. Vergil schreibt in den Georgica: „Fünf Zonen umfassen den Himmel, von denen die eine immer rot ist vom Leuchten der Sonne und immer verbrannt vom Feuer“ (Quinque tenent celum zone, quarum una corusco / semper sole rubens et torrida semper ab igne).52 Einige Zitate von Vergil und Lukan (1. Jh. n. Chr.) hat Sacrobosco von Macrobius übernommen und sie durch Zitate von Ovid ergänzt.53 Von Al-Farghanis Kap. 6–9 übernimmt Sacrobosco auch die Einteilung der Erde in sieben Klimata und die Namen der bekannten Länder und Städte (Kap. 2). Ebenfalls die Zahlen für die Breite der sieben Klimata stammen von Al-Farghani. Dabei übersieht Sacrobosco, dass er damit auch Al-Farghanis Schätzung von 20.400 Meilen für den Erdumfang akzeptiert, obwohl er schon Eratosthenes’ Erdumfang von 252.000 Stadien (46.872 km) zitiert hat (Kap. 1).54

Der Abschnitt zu den Qualitäten der bewohnbaren Zonen erinnert an Pseudo-Proklos’ Kap. 7 über die „Kräfte“ der Parallelkreise: „Und deshalb sagt Al-Farghani, dass für sie [die Bewohner des Äquators] Sommer und Winter zusammengefasst werden, da diese beiden Jahreszeiten, die Winter und Sommer für uns sind, für diese zwei Winter sind.“55 Denn am Äquator gibt es immer Äquinoktien und sie führen im Jahr vier Wenden aus, zwei im Sommer, wenn die Sonne in einem der Äquinoktialpunkte steht, und zwei im Winter, wenn die Sonne im ersten Grad des Krebses und des Steinbocks steht. Von Al-Farghani, Kap. 23–26, übernimmt Sacrobosco auch die Positionen der Sterne im Tierkreis und ihre Auf- und Untergänge (Kap. 4).

Während bei Pseudo-Proklos nur die Jahresbewegung der Sonne thematisiert wird, die sich von Süden nach Norden und wieder zurückbewegt, unterscheidet Sacrobosco nach aristotelischer Lehre zwei Bewegungen (Kap. 2). Die erste Bewegung des primum mobile bzw. der neunten Sphäre oder des letzten Himmels, die von Osten nach Westen und wieder zurückgeht und das Auf- und Untergehen der Sterne bewirkt, wird auch „rationale Bewegung“ genannt. Sie führt vom Schöpfer (Gott) zu den Lebewesen auf der Erde und wieder zurück zu Gott. Die zweite Bewegung ist die der Planeten und geht entgegengesetzt von Westen nach Osten und wieder zurück. Diese ist die „sichtbare“ Bewegung, die von den vergänglichen Dingen zum Schöpfer und wieder zurück vom Schöpfer zu den vergänglichen Dingen führt. Dass Gott bei Pseudo-Proklos fehlt, kommt den Humanisten sicher gelegen. Dieses theologische Element fehlt dem Pseudo-Proklos ebenso wie das physikalische Element.

In Kap. 3 beschreibt Sacrobosco die Auf- und Untergänge der Zeichen, was Pseudo-Proklos nicht thematisiert. Die Zeichen können auf zwei Weisen aufgehen, nach den Dichtern oder nach den Astronomen. Die Aufgänge nach den Dichtern wiederum teilen sich auf in „kosmische, chronische und heliakale“ (zur Definition vgl. das Unterkapitel (). Zum „kosmischen Aufgang“ zitiert Sacrobosco Vergils Georgica, zum „chronischen Aufgang“ Ovids De Ponto und Lukans De bello civili. Außerdem unterscheidet Sacrobosco zwischen „rechten Aufgängen“, in denen die Zeichen des Tierkreises gegenüberliegen (dazu Lukan) und „obliquen Aufgängen“, die stattfinden, wenn beide Hälften des Tierkreises aufgehen.

Insgesamt ist Pseudo-Proklos’ Sphaera elementarer als jene des Sacrobosco und bemüht sich gleichzeitig um mehr Vollständigkeit im Detail, d.h. die Darstellung aller Kreise auf der Himmelssphäre – die Milchstraße eingeschlossen – und eine bildhafte Darstellung des Globus mit den Verhältnissen der Parallelkreise zueinander und den Sternbildern. Angenommen, die Sphaera wird im 15. Jahrhundert aus Geminos’ Eisagoge extrahiert, bildet das zu dieser Zeit bekannte Standardlehrbuch des Sacrobosco kein strenges Vorbild für die Auswahl der Kapitel. Vielmehr scheint Pseudo-Proklos’ Sphaera als elementare Variante zu Sacroboscos Sphaera und Ptolemaios’ Almagest konzipiert zu sein, da im 15. und 16. Jahrhundert ein Bedarf an einfachen Lehrbüchern über sphärische Astronomie besteht.56 Auffällig ist das lange Kapitel über die nördlichen, südlichen und mittleren Zeichen, das als astrologisches Spezialwissen gedeutet werden kann.

Fußnoten

Zum Titel vgl. die Erstausgabe (1499), ein kurzer Text von nur sieben Seiten in der Erstausgabe (Venedig, 1499) und 15–16 Kapiteln.1. Περὶ ἄξονος καὶ πόλων; 2. Περὶ τῶν ἐν τῇ σφαίρᾳ κύκλων; 3. Διὰ τὶ πέντε μόνον παράλληλοι ἐν τῇ σφαίρᾳ κύκλοι; 4. Περὶ ἐπιφανείας καὶ κρύψεως τῶν πεντε παραλλήλων κύκλων; 5. Περὶ μεγέθητος τῶν πέντε παραλλήλων κύκλων; 6. Περὶ τάξεως τῶν πέντε παραλλήλων κύκλων; 7. Περὶ δυνάμεως τῶν πέντε παραλλήλων κύκλων; 8. Περὶ διαστάσεως τῶν πέντε παραλλήλων κύκλων; 9. Περὶ κολούρων κύκλων; 10. Περὶ ζωδιακοῦ κύκλου; 11. Περὶ ὁρίζοντος; 12. Περὶ τῶν μεσημβρινῶν κύκλων; 13. Περὶ γαλακτινοῦ κύκλου; 14. Περὶ τῶν πέντε ζωνῶν; 15. Περὶ τῶν κατηστερισμένων ζῳδίων. Sphaera, Kap. 3.

Vgl. Todd 1993.

Vgl. Aujac 1975, XCII; Todd 2003, 11.

Vgl. Szàbo 1992, 149.

Auch in der Widmung an Arthur von Wales schreibt Thomas Linacre, dass Proklos die Sphäre für den Horizont von Griechenland geschrieben habe: Sed nunc Proclum ipsum, si libet loquentem audies, perinde atmen, ac si in graecia esset. Ad cujus certe horizonta sphaeram pinxit. Quid ita statim in ingressu operis significasse, non fuerit fortassis ab re, vgl. Linacre 1499.

Vgl. Szàbo 1992, 149–152.

Vgl. Szàbo 1992, 105.

Vgl. Evans 2006, 41–42.

Vgl. Szàbo 1992, 106.

Vgl. Rosán 1949, 47, Anm. 10.

Vgl. Gutenäcker 1830, 12, Anm. 21; Szàbo 1992, 63, 189.

Zur Rechnung vgl. Gutenäcker 1830, 12–13, Anm. 22.

Vgl. Gutenäcker 1830, 11, Anm. 16.

Τοῦ μέν, ὅσον τε μάλιστα, δι’ ὀκτὼ μετρηθέντος | πέντε μὲν ἔνδια στρέφεται καθ’ ὑπέρτερα γαίης, | τὰ τρία δ’ ἐν περάτῃ· θέρεος δέ οἱ ἐν τροπαί εἰσιν, Arat. Phaen., V. 497–499.

Vgl. Gutenäcker 1830, 12, Anm. 19.

Vgl. Gutenäcker 1830, 11, Anm. 17.

Vgl. Rosán 1949, 47.

Vgl. Evans 2006, 156, Anm. 25.

Κριός, Ταῦρος, Δίδυμοι, Καρκίνος, Λέων, Παρθένος, Ζυγός, Σκορπίος, Τοξότης, Αἰγόκερως, ῾Υδροχόος, ᾿Ιχθύες, vgl. Aujac 1975, 1.

Ptol. Alm. VIII, 3; zu dieser Stelle vgl. Evans 2006, 160, Anm. 38.

Arist. Meteorologica 345a 11–346b 15; Macrobius (Ambrosius Theodosius, 370–430 n. Chr.), Somnium Scipionis I, 15.3–7. Zu diesen Stellen vgl. Evans 2006, 159–160, Anm. 37.

Vgl. Gutenäcker 1830, 22, Anm. 66.

Vgl. Tannery 1893, 83.

Vgl. Evans 2006, 15–27.

Vgl. Evans 2006, 2.

Vgl. Evans 2006, 13.

Die Kapitelanfänge zeigen den fließenden Übergang zwischen den Kapiteln, z. B. Kap. 5: „Von den vorher genannten fünf parallelen Kreise bleibt die Größe von einigen in der ganzen bewohnten Gegend die gleiche, von den anderen verändert sie sich entlang der Klimazonen“; Kap. 7: „In gleicher Weise sind die Eigenschaften der fünf parallelen Kreise nicht dieselben.“

Vgl. Evans 2006, 141.

Vgl. Evans 2006, 12–13.

Vgl. Ludwig 2003, 125–126.

Vgl. Evans 2006, 12–13.

Vgl. Evans 2006, 15.

Vgl. Geminos XVI, 22; Vogel 1995, 82.

Zum Kalender vgl. Manitius 1898, 282–283; Van der Waerden 1985; Grafton und Scaliger 1993, 411–412.

Vgl. Kap. 8 über die Monate und den Kalender, Kap. 18 über den Kalender.

Vgl. Kap. 1 über die Kreise der Zeichen, Kap. 7 über die Aufgänge der 12 Zeichen, Kap. 13 über die täglichen und die heliakischen Auf- und Untergänge der Sterne, Kap. 14 über die Wege der Fixsterne.

Vgl. Kap. 2 über die Aspekte der Zeichen, Kap. 9 über die Mondphasen, Kap. 10–11 über die Sonnen- und Mondeklipsen, Kap. 17 über die Wetterzeichen.

Vgl. Kap. 1 und 7 die Kreise und Aufgänge der Zeichen, Kap. 8 über die Monate, Kap. 18 über den Kalender.

Vgl. Kap. 16 über die Bewohner der Erde synoikoi, perioikoi, antoikoi, antipodes und die Oikumene, die in drei Teile, Asien, Europa und Libyen geteilt wird.

Vgl. Kap. 6 über Tag und Nacht.

Vgl. Evans 2006, 2–3.

Vgl. Pedersen 1985, 183.

Vgl. Zur Tendenz westlicher Texte, arabische Ursprünge zu verdrängen, vgl. Hasse 2016.

Macrobius wird als Quelle des Sacrobosco von Thorndike 1949, 19–21 und Pedersen 1985, 214 akzeptiert. Für eine ähnliche Macrobius-Aufnahme im Mittelalter vgl. Eastwood 1994.

Die sublunare Welt, d.h. „unter dem Mond gelegen“, enthält die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, die supralunare Sphäre, d.h. „über dem Mond gelegen“, enthält den „Äther“ oder „das Fünfte Element“ mit den himmlischen Sphären der Sonne und der fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn und der Fixsterne.

1. Quid sit spera, quid eius centrum, quid axis spere, quid sit polus mundi, quot sint spere, et que sit forma mundi. 2. de circulis ex quibus hec spera materialis componitur et illa supercelestis, que per istam imaginatur, componi intelligitur. 3. de ortu et occasu signorum, et de diversitate noctium et dierum, que sit habitantibus in diversis locis et de divisione climatum. 4. de circulis et motibus planetarum et de causis eclipsium, vgl. Thorndike 1949, 76.

Proklos definiert im Timaios-Kommentar die Sphärizität der Welt mit den drei platonischen Argumenten des Einen, des Schönen und des Verwandten (33b1–8); vgl. Baltes 1976 und Baltes 1978.

[...] Ptolomeum et omnes philosophos dicentes quod ubicumque existat homo sex signa oriuntur ei et sex occidunt, et medietas celi semper apparet, medietas vero occultatur, vgl. Thorndike 1949, 84.

Vgl. Gutenäcker 1830, 8, Anm. 6.

Et iste circulus, quem describit polus zodiaci circa polum mundi articum dicitur circulus articus. Ille vero circulus quem describit alter polus zodiaci circa polum mundi antarticum dicitur circulus antarticus, Kap. 2, vgl. Thorndike 1949, 92.

Vgl. Thorndike 1949, 94, Sacrobosco, Kap. 2.

Vgl. Thorndike 1949, 19–20.

Vgl. Thorndike 1949, 16–17.

Et hoc est quod dicit Alfraganus quod hyemps et estas sunt illis unius et eiusdem complexionis, quoniam illa duo tempora que sunt nobis hyemps et estas sunt illis duo hyemes, vgl. Thorndike 1949, 104. Dieses Zitat hat Sacrobosco wohl von Al-Farghani, Kap. VI, 6, 10 übernommen.

Vgl. Krayer 1991, 56f..